Paul Klee, Eroberer (1930), Aquarell und Feder auf Baumwolle auf Karton, 40,5 x 34,2 cm, Kunstmuseum Bern
Seit deutsche und österreichische Sozialwissenschaftler nicht mehr mit der Wehrmacht durch die Lande ziehen und ihre Konkurrenz einfach umbringen können, haben sie ihre Methoden verfeinern müssen. Seitdem ich nicht mehr existiere und meinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht als wissenschaftlicher Lektor und Übersetzer bestreite, bekomme ich mitunter auch sozialwissenschaftliche Texte zur Bearbeitung und bin dadurch allmählich dem Sprachimperialismus deutscher und österreichischer SozialwissenschaftlerInnen auf die Spur gekommen. Der funktioniert so:
Erster Schritt: Wie bei NichtsozialwissenschaftlerInnen auch, versucht man die unerträgliche Banalität des eigenen Daseins und (in diesem Fall) die Gehaltlosigkeit der eigenen Texte dadurch zu übertünchen, dass man immer häufiger, wenn es sein muss, an angemessenen, vorzugsweise aber an denkbar ungeeigneten Stellen Anglizismen einführt. (Hieran haben wir uns alle so sehr gewöhnt, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie bemerkenswert das eigentlich ist, bedenkt man, dass die Fotosynthese der allermeisten Deutschen und Österreicher so wenig ohne Antiamerikanismus auskommt wie die der Pflanzen ohne die Sonne.) Diese Anglizismen müssen zwei Grundbedingungen erfüllen. Erstens darf es die Begriffe in der englischen Sprache entweder gar nicht geben oder, wenn man sich schon mit einem realexistierenden englischen Wort abgeben muss, darf die ihm als Einsprengsel ins Deutsche zugedachte Funktion nicht der Bedeutung oder dem Gebrauch des Wortes im Englischen entsprechen (wobei knapp daneben dann oft besonders abwegig ist). Zweitens sollte der Begriff, wenn irgend möglich, so gebildet und eingesetzt werden, dass er bei fast jedem Gebrauch gegen die Regeln der deutschen Grammatik und Syntax verstößt und sich jeder üblicherweise zu erwartenden Flexion widersetzt. Ließe sich der Anglizismus verwenden, ohne den Satzbau zu beschädigen, würde er womöglich nicht auffallen.
Zweiter Schritt: Sofern einem auf dem Weg zur Publikation englischsprachiger Texte Lektoren oder Übersetzer aufgebrummt werden, die sich (was keineswegs die Norm zu sein scheint) mit der englischen Sprache und deren Gebrauch tatsächlich auskennen, werden diese erbittert bekämpft. Dieser oder jeder Terminus komme doch gerade aus dem englischen, also müsse er ja wohl auch erstrecht in einen englischen Text gehören. Dies wird in jüngster Zeit dadurch enorm erleichtert, dass es in der Postmoderne ja ohnehin keine gültigen Regeln mehr geben darf, und jeder Verweis auf eingeführte Konventionen und Standards nur eine Form der Unterdrückung sein kann. Im Übrigen: Was wissen Muttersprachler schon über den korrekten Gebrauch ihrer eigenen Sprache? Und selbst wenn keine realistische Chance bestehen mag, dass eine Muttersprachlerin den Sinn des Texts in der gegebenen Form richtig erfasst, so heißt das ja nur, dass Muttersprachlerinnen allerdringendst ihre Sprache überdenken müssen. Und was heißt hier überhaupt Sinn? Kurzum: Korrekturversuche werden energisch abgewehrt und systematisch wieder wegverschlimmbessert.
Dritter Schritt: Nachdem es einem mit mehr oder weniger Brachialgewalt gelungen ist, mehrere auf deutsch unter Verwendung englischer Wörter verfasste Artikel in englischsprachigen Publikationen unterzubringen, verweist man auf diese als Beweis dafür, dass auf deutsch unter Verwendung englischer Wörter abgefasste Artikel in englischsprachige Publikationen ja ganz offensichtlich gang und gäbe sind. Daraus folgt wahlweise entweder, dass das germanische Pseudoenglisch schon immer das einzig richtige Englisch war und/oder, dass Deutsche und Österreicher zwangsläufig viel besser englisch können, als die Engländer, ja eigentlich überhaupt die einzigen sind, die die englische Sprache korrekt zu gebrauchen vermögen.
Paul Klee, Der Teufel jongliert (1930), Öl- und Wasserfarbe auf Leinwand, 50 x 69 cm (Privatsammlung Paul Sacher)
Zwei Dinge sind mir in den letzten Wochen noch einmal besonders deutlich vor Augen getreten:
1. Die allermeisten Antisemitismusforscher und sonstigen vermeintlichen -expertinnen definieren den Antisemitismus nicht anhand wissenschaftlich verifizierbarer (also auch widerlegbarer) Kriterien (von absurden Dingen wie einem Versuch, sich so etwas wie der Wahrheit anzunähern, will ich hier gar nicht erst anfangen), sondern ausschließlich anhand pragmatischer Erwägungen der Koalitionsfähigkeit. Eine wissenschaftliche Antisemitismusforschung würde das, was sie anhand sorgfältig entwickelter Kriterien für Antisemitismus hält, unter gegebenenfalls fortlaufender Anpassung ihres Antisemitismusbegriffs sorgsam studieren, um zu ermitteln, wie der Antisemitismus am besten bekämpft werden könnte. Die gegenwärtig vorherrschende Antisemitismusforschung nimmt den umgekehrten Weg: Sie definiert den Antisemitismus so, dass unter den jeweils gegebenen Bedingungen noch eine genügende Anzahl wohlwollender (bzw. genehmer) Menschen (und/oder ein Großteil des eigenen Freundeskreises) dazu bewogen werden kann, Lippenbekenntnisse gegen ihn abzulegen. Das hat zur scheinbar paradoxen Folge, dass sie sich von dem gesellschaftlich tief verankerten Antisemitismus immer weniger eingestehen darf, je aggressiver er sich in der Öffentlichkeit äußert und auswirkt.
Die gegenwärtig vorherrschende Antisemitismusforschung definiert den Antisemitismus so, dass unter den jeweils gegebenen Bedingungen noch eine genügende Anzahl wohlwollender Menschen (bzw. ein Großteil des eigenen Freundeskreises) dazu bewogen werden kann, Lippenbekenntnisse gegen ihn abzulegen.
2. Gerade für sich als kritisch verstehende Wissenschaftlerinnen birgt der Tabubruch einen immensen Reiz. Was könnte frustrierender sein, als festzustellen, dass man mit einem in Wirklichkeit gar nicht existierenden, offiziell aber unbeirrbar propagierten Konsensus um der Sache willen eigentlich konform gehen müsste? (Dieses Problem führt auch die Covidkrise allzu deutlich vor, und es ist selbstverständlich alles andere als ein Zufall, dass Querdenken und Antisemitismus voneinander überhaupt nicht zu trennen sind.) Die Kritik nun aber auf die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu richten, würde eine gewisse begriffliche Anstrengung und ernsthafte Forschung erfordern. Viel leichter ist es da, die Wut gleich auf die nicht erfüllte (und vermutlich auch nie ganz erfüllbare) Aspiration zu verschieben, zumal man sich damit ja in Einklang mit genau jener teils schweigenden, teils obsessiv um sich schreienden Mehrheit begibt, der jener angeblich herrschende Konsensus schon lange (oder immer) völlig am Arsch vorbeiging. So genießt man einerseits das Wohlgefühl des Zugehörens zur Volksgemeinschaft und kann sich andererseits noch als oberkritisch gebärden. Dennoch bleibt ein doppelter Widerspruch bestehen.
Man will Antisemit sein dürfen, ohne es sich gefallen lassen zu müssen, dass man deswegen Antisemit genannt wird.
Einerseits will man die geile Erregung des Tabubruchs erleben, ohne dafür irgendeinen Preis zahlen zu müssen. Dadurch erklärt es sich, dass die besonders fortgeschrittene Antisemitismusforschung sich mit dem Antisemitismus gar nicht mehr aufhält, sondern ihre ganze Wucht auf die Bekämpfung des Antisemitismusvorwurfs verlegt hat. Man will Antisemit sein dürfen, ohne es sich gefallen lassen zu müssen, dass man deswegen Antisemit genannt wird.
Andererseits besteht das Tabu zwar als Wort am Sonntag, hat aber nicht die geringste gesellschaftliche Wirkungsmacht. Um sich also Zugang zur geilen Erregung des Tabubruchs zu verschaffen, muss man das Tabu als ein ernstzunehmendes erst selbst erfinden. Daher das endlose Lamentieren darüber, dass man das, was man immerzu ohne jedwede Selbstbeherrschung in die Welt herauskotzt, ja gar nicht sagen dürfe.
Paul Klee, Die Gehängten (1913), Tinte auf Papier auf Pappe, 32,4 x 24,8 cm (MoMA)
Vergesst die Verschwörungstheorien, dass Problem ist die Mordlust.
Wenn ich mit Hannah Arendt etwas teile, dann gewiss ihr tiefes Misstrauen jenen Intellektuellen gegenüber, denen immer und zu allem möglichst gleich „etwas einfällt“. In den letzten Wochen haben sich in meinem Nachdenken über die gegenwärtige Lage aber einige Ideen zum allgegenwärtigen Antisemitismus im „Widerstand“ gegen die momentanen Beschränkungen herauskristallisiert, die manche Leserin vielleicht doch interessieren könnten.
Der ständige Verweis aufs Verschwörungstheoretische ist zwar nicht ganz falsch und schon auch relevant, geht am Kern der Sache aber letztlich vorbei. Im Übrigen handelt es sich dabei ja ohnehin um einen Allerweltsvorwurf. Wenn man, wie die Postmoderne es (zumindest vorgeblich) tut, alles stets nur auf der Ebene der Form ohne Berücksichtigung des Inhalts vergleicht, ist auch die Marxsche Vorstellung vom Warenfetisch eine Verschwörungstheorie. Jede Einsicht, die das vermeintlich Offensichtliche nicht als die ganze Wahrheit gelten ließe und damit, grundsätzlicher ausgedrückt, der Annahme widerspräche, menschliche Wahrnehmung sei ohne jegliche Form von Projektion möglich, wäre dann eine Verschwörungstheorie.
Sofern es um Erklärungen dafür geht, dass der „Widerstand“ gegen die von der Pandemie aufgenötigten Einschränkungen Antisemitismus jeder Couleur zum Zwilling hat, ist der Hang zum Verschwörungstheoretischen aber viel mehr Symptom als Ursache. Der entscheidende Kausalzusammenhang ist viel elementarer, er besteht in der entfesselten, kollektiv sanktionierten Mordlust. Bei aller Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit beruht der Antisemitismus im Kern auf der — der Kultur des Westens wie des Islams gleichermaßen integral eingeschriebenen — Vorstellung, dass die Juden in dem Sinne schlechthinnig verfügbar seien, dass man an ihnen, wie an keiner anderen Gruppe, seine eigenen Prinzipien auch und gerade dann mit sonst ungeahnter Konsequenz durchexerzieren und die eigenen unlösbaren Widersprüche einer vermeintlich widerspruchlosen Lösung zuführen darf und muss, wenn das zur Folge hat, dass die Juden am Ende alle tot sind.
Die Leute tragen ja nicht deswegen gelbe Sterne und behaupten, es erginge ihnen wie einst den Juden in der Schoa, weil sie sich mit den ermordeten Juden identifizieren würden. Das Problem besteht in diesem Fall nicht in der Relativierung der Schoa, sondern in der Täter-Opfer Umkehr die hier stattfindet, und zwar in einer Form, die man so lupenrein selten zu sehen bekommt.
Um diesen Zusammenhang zu erkennen, bedarf es ja ausnahmsweise einmal tatsächlich nicht des geringsten verschwörungstheoretischen Talents. Die Leute tragen ja nicht deswegen gelbe Sterne und behaupten, es erginge ihnen wie einst den Juden in der Schoa, weil sie sich mit den ermordeten Juden identifizieren würden. Das Problem besteht in diesem Fall nicht in der Relativierung der Schoa, sondern in der Täter-Opfer Umkehr, die hier stattfindet, und zwar in einer Form, die man so lupenrein selten zu sehen bekommt. Wenn in der gegenwärtigen Situation irgendeine Gruppe mit den vom Nationalsozialismus bedrohten und schließlich in unerhörter Zahl ermordeten Juden gleichzusetzen wäre, dann diejenigen in unserer Gesellschaft, bei denen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass das Virus sie töten würde. Der gelbe Stern drückt bei diesen „Widerständlern“ nicht das Verlangen nach einem Schutz aus, der den Juden in der Vergangenheit verwehrt wurde, sondern das Bedürfnis, endlich SS-Uniform tragen zu dürfen.
Der gelbe Stern drückt bei diesen „Widerständlern“ nicht das Verlangen nach einem Schutz aus, der den Juden in der Vergangenheit verwehrt wurde, sondern das Bedürfnis, endlich SS-Uniform tragen zu dürfen.
Den Möchtegern-SSlern muss man der Wahrheit halber zugestehen, dass sie betrogene Betrüger sind. Unser ganzes Leben lang gaukelt man uns vor, wir könnten unser Schicksal maßgeblich beeinflussen, wenn wir uns nur mit Haut und Haaren dem Konformismus verschreiben. Damit nicht genug, müssen wir, um dazuzugehören, auch noch unablässig so tun, als wüssten wir nicht, dass das eine Lüge ist, obwohl wir doch letztlich, ob bewusst oder unbewusst, alle wissen, dass es gelogen ist; und, als wäre auch das noch immer nicht schlimm genug, sind wir ebenso unablässig dazu angehalten, anderen diesen Bären aufzubinden und von ihnen zu verlangen, dass auch sie so tun, als wüssten sie nicht, dass sie angelogen werden. Dass nichts dieses Gefüge auf so entscheidende Weise ins Schwanken bringt wie eine isolierte Portion Wahrheit, ist kaum überraschend. Auf einmal könnte man tatsächlich mit vergleichsweise einfachen Mitteln — es wird einem noch nicht einmal abverlangt, dass man etwas tue, sondern eher das genaue Gegenteil — Maßgebliches zum Schutz sowohl des eigenen Lebens als auch der Sicherheit Anderer leisten. Dass es da eine gewisse Portion Reflexionsfähigkeit braucht, um das nicht als Hohn zu empfinden, finde ich verständlich. Die „Widerständler“ greifen an dieser Stelle jedoch zum Umkehrschluss: Endlich kann man es dem ganzen lügenhaften System — durch Abwehr der Wahrheit, die so großen Seltenheitswert hat, dass sie schon gar nicht mehr wahr ist — auf folgenreiche Weise heimzahlen.
Endlich kann man es dem ganzen lügenhaften System — durch Abwehr der Wahrheit, die so großen Seltenheitswert hat, dass sie schon gar nicht mehr wahr ist — auf folgenreiche Weise heimzahlen.
Da trifft es sich gut, dass dieser „Widerstand“ gute Chancen hat, in erheblichem Umfang Menschenleben zu kosten. Was wären das auch für Prinzipen, wenn sie nicht darauf hinausliefen, den unnötigen Tod einer Gruppe Schutzloser zumindest billigend in Kauf zu nehmen? Die Forderung, dass man andere Menschen nur im Ausnahmefall töten solle, bildet ja ein Kernstück des uns allen abverlangten Konformismus und ist zugleich ein ganz besonderes Ärgernis, weil sie noch dazu vernünftig ist. Gerade darin, dass sie die Rebellion gegen diese Forderung mit vermeintlich plausiblen Argumenten legitimieren, liegt ja der Reiz sowohl des Antisemitismus als auch der Eugenik (und hier, und nicht im „Rassismus“ liegt auch der entscheidende Zusammenhang zwischen beiden). In Deutschland verschärft sich die Lage noch dadurch, dass zumindest die Bundesregierung sich einem stärker eugenisch ausgerichteten Umgang mit der Pandemie, der dem kapitalistischen System, dem uns zu unterwerfen, wir ständig angehalten werden, wohl viel eher entsprochen hätte, entgegengestellt hat. Es ist ja kein Geheimnis, dass Linke und extrem Rechte mit der Eugenik traditionell viel mehr anfangen können als gemäßigte Rechte, denen der Anspruch auf Schutz des menschlichen Lebens bei aller Abgebrühtheit doch immer mal wieder zum Hindernis wird. In gewisser Weise sind wir ja auch wirklich mit einer Form des Irrsinns konfrontiert: Ein Leben lang hat man uns beigebogen, dass die Schwachen und Schutzbedürftigen letzten Endes Schmarotzer sind, deren Lage man mit dem Zuckerbrot nur verschlimmert und bestenfalls mit der Peitsche verbessern kann. Und nun soll das ganze Land wer weiß wie lange um der Schwachen und Schutzbedürftigen willen die Luft anhalten?
Doch ist verstehen ja nicht gleich verstehen. Verstehen im Sinne des bloßen Nachvollziehens kann man auch die Ideologie der Nazis. Was könnte, lässt man sich erst auf die entsprechenden irrigen Grundvoraussetzungen ein, folgerichtiger sein als die Schoa? Dass ein irrationales Reaktionsmuster nachvollziehbar ist, macht es jedoch weder rational noch weniger schädlich. Gerade darum ist es ja so wichtig, den Antisemitismus — und das Gleiche würde ich von der momentanen Form des „Widerstands“ behaupten — nicht wie jede andere kontroverse Meinung im bunten Diskurs auch zu behandeln, sondern ihn in allen seinen Äußerungsformen stets als genozidalen Impuls zu brandmarken.
Paul Klee, “Zerbrochene Maske” (1934), Kohle und Aquarell auf Papier auf Karton, 16,7 × 20–20,3 cm (Zentrum Paul Klee, Bern)
Schüler-Springorum: „Endlich können wir genau messen, wie unberechtigt einzelne Antisemitismusvorwürfe sind.“
Die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum, stellte am Dienstag eine am Institut entwickelte Innovation vor: Die nach unten offene Bahnersskala. Das Zentrum habe sich seit Jahrzehnten darum verdient gemacht, im Einzelnen nachzuweisen und der Öffentlichkeit zu erklären, was alles nicht antisemitisch sei. Der weit verbreiteten Überbewertung der vom Antisemitismus ausgehenden Gefahr habe dadurch erfolgreich entgegengewirkt werden können. Seit langem habe man aber nach einem methodologischen Ansatz gesucht, so Schüler-Springorum, „der es uns nicht nur erlaubt, festzustellen, dass die Mehrzahl der geäußerten Antisemitismusvorwürfe unbegründet ist, sondern mit dem wir auch genau quantifizieren können, wie unantisemitisch die fälschlich inkriminierten Sachverhalte sind“. Die Bahnersskala erlaube nun genau dies.
Für jede Äußerung oder Handlung, die die IHRA-Definition als antisemitisch bezeichnet, erhält deren Urheber einen Punkt auf der Bahnersskala.
In der gegenwärtigen Pilotphase sei die Bahnersskala an der sogenannten Antisemitismusdefinition der IHRA ausgerichtet. Für jede Äußerung oder Handlung, die die IHRA-Definition als antisemitisch bezeichne, erhalte deren Urheber einen Punkt auf der Bahnersskala. Je mehr derartige Sachverhalte man erfülle und je häufiger man es tue, desto mehr Punkte erhalte man auf der Skala. Damit sei eine verlässliche und statistisch robuste Grundlage für die Bahnersskala geschaffen worden. Allerdings würden im neuen Jahr mehrere neue Forschungsprojekte durchgeführt, um die gesamte geistes- und sozialwissenschaftliche Literatur und einen reichen Korpus an Primärquellen auf Sachverhalte hin zu durchsuchen, die in der Vergangenheit als antisemitisch bezeichnet, von der IHRA jedoch nicht explizit berücksichtigt worden seien, um auch diese zur Liste der unantisemitischen Sachverhalte hinzufügen zu können, die der Bahnersskala in ihrer endgültigen Form zugrunde liegen würde. Zu diesem Zweck seien bereits mehrere Promotionsstipendien ausgeschrieben worden.
Angesichts seines jüngst erst wieder bewiesenen großen Mutes im Kampf gegen den doppelzüngigen Fanatismus der denunziatorischen Israellobby habe man schließlich beschlossen, die Skala nach dem großen deutschen Journalisten Patrick Bahners zu benennen.
Während ihrer Entwicklung sei die Skala im Institut stets nur ganz prosaisch als „Warum-Antisemitismus-nicht-antisemitisch-ist-Skala“ bezeichnet worden. Angesichts seines jüngst erst wieder bewiesenen großen Mutes im Kampf gegen den doppelzüngigen Fanatismus der denunziatorischen Israellobby habe man aber schließlich beschlossen, die Skala nach dem großen deutschen Journalisten Patrick Bahners zu benennen. Kein deutscher Qualitätsjournalist habe seine Machtstellung im deutschen Feuilleton in den letzten Jahren so aufopferungsvoll genutzt, um den Kampf gegen unberechtigte Antisemitismusvorwürfe zu fördern. Im Übrigen erziele Bahners selbst auf der nach ihm benannten Skala außerordentlich beeindruckende Werte, was ihn gewiss freuen werde, so Schüler-Springorum.
Wie das Preiskomitee Freitagabend bekannt gab, geht der Julius-Streicher-Preis für Antisemitismusförderung dieses Jahr an die neue GG 5.3 Initiative. In seiner Würdigung der Initiative verwies das Komitee auf einen historischen Präzedenzfall. Die Bedeutung des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich sei allzu oft unterschätzt worden, weil den explizit antisemitischen politischen Organisationen nur ein bedingter Erfolg vergönnt war. Vernachlässigt werde dabei die entscheidende Rolle, die gerade Hochschullehrer und Kulturschaffende bei der gesellschaftlichen Verankerung des Antisemitismus gespielt hätten. Die GG 5.3 Initiative sei zwar mitnichten die erste ihrer Art, zeige aber sehr deutlich, wie zahlreich die Hochschullehrer und Kulturschaffenden in Deutschland seien, die nun endlich vorbehaltlos ihre Verantwortung für die Antisemitismusförderung auch öffentlich wahrzunehmen bereit seien.
Besonders lobte das Komitee die Ingenuität mit der die Professorinnen Stefani Schüler-Springorum und Miriam Rürüp sich zweier führender Institutionen bemächtigt hätten, von denen die Verfechter der Aufklärungsduselei allzu lange angenommen hätten, sie sollten nicht der Förderung sondern der Bekämpfung des Antisemitismus dienen. Sie hätten auf entscheidende Weise dazu beigetragen, den Mythos zu brechen, die Antisemitismusforschung sei per se auf dessen Bekämpfung ausgerichtet. Auch Barbara Stollberg-Rilingers Beitrag zur Förderung des Antisemitismus an der Spitze des Wissenschaftskollegs zu Berlin, zu dessen Gründungsfellows einst griesgrämige Schimpfjuden wie Gershom Scholem zählten, könne man kaum genügend loben.
Beobachter hatten angenommen, dass das am Birkbeck College in London angesiedelte Pears Institute sich dieses Jahr dank seiner systematischen und beharrlichen Bekämpfung der Antisemitismusdefinition der IHRA und Verharmlosung des Antisemitismus in der Labour Party gute Chancen auf den Preis ausrechnen könne. Aus gut informierten Kreisen hieß es jedoch, in der Jury habe es angesichts der Tatsache, dass das Pears Institute von männlichen Wissenschaftlern (David Feldman und Brendan McGeever) geleitet werde, Bedenken gegeben. Auch im Vorjahr war der Preis an eine von einem Mann geleitete Institution gegangen. Die Henkel Stiftung erhielt ihn für ihre entschlossene Förderung und Verteidigung Mbembes. Das Pears Institute muss sich daher mit dem Walter-Grundmann-Preis zufriedengeben.
Die Empfänger des Julius-Streicher-Preises für Antisemitismusförderung erhalten die Möglichkeit, die Wochenzeitschrift „Der Stürmer“ einen Monat lang herauszugeben, und gewinnen einen einmonatigen Aufenthalt in einem Ausbildungslager der Hisbollah, den beliebten Said-Gedenk-Ausflug eingeschlossen, der es ihnen ermöglicht, vom Libanon aus einen Stein auf die israelischen Grenzbefestigungen zu werfen. Empfänger des Walter-Grundmann-Preises dürfen eine Ausgabe des „Stürmer“ herausgeben und erhalten Training im Anzünden örtlicher Synagogen.
Die Geehrten standen für eine sofortige Stellungnahme nicht zur Verfügung.
Stellen sie sich bitte vor, sie sind in einer Unterhaltung mit einem Erwachsenen begriffen. Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass ihr Gegenüber an irgendeiner Lernbehinderung leidet oder ihr Leben bis vor Kurzem in völliger Isolation verbracht hat. Doch will sie von der Behauptung nicht ablassen, dass der Weihnachtsmann tatsächlich existiert. Vermutlich werden sie zunächst denken, sie scherze. Dann wird ihnen klar, dass dem nicht so ist. Man kann sich angesichts dieses Sachverhalts verschiedene Erwägungen und mögliche Reaktionen vorstellen. Doch würden wohl die wenigsten nun in eine ernsthafte Diskussion eintreten, um zu beweisen, dass der Weihnachtsmann wirklich nicht existiert.
Dennoch gibt es zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf Erden mehrere hundert Millionen Menschen, die sehr wohl an die Existenz des Weihnachtsmanns glauben. Nicht nur werden sie dennoch von den meisten Menschen (zumindest auf eine gewisse Weise) ernst genommen bzw. beteiligen die meisten Menschen sich daran, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Obendrein haben sämtliche Kulturen, in denen der Weihnachtsmann eine Rolle spielt, bewährte Methoden entwickelt, um ihrem Nachwuchs diesen Glauben zum geeigneten Zeitpunkt abzugewöhnen. Die friedliche Koexistenz dieser beiden einander scheinbar widersprechenden Umgangsweisen mit ein und demselben Problem beruht darauf, dass es nur wenigen Menschen schwerfällt, sie eindeutig zu unterscheiden.
Beim Antisemitismus haben wir es mit einem ganz ähnlichen Szenario zu tun. Einerseits ist erwiesen, dass man Antisemiten mit Argumenten nicht überzeugen kann. Zudem wissen wir, dass man die Sache der Antisemiten, indem man sich auf eine Diskussion mit ihnen einlässt, nur fördert, weil ihre Wahnvorstellungen dadurch in den Status diskussionswürdiger Argumente erhoben werden. Andererseits ist es infolge der tiefen Verankerung des Antisemitismus in westlichen und muslimischen Gesellschaften unvermeidlich, dass es zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine ganz erhebliche Anzahl von Menschen auf Erden gibt, denen die Gelegenheit, dieses Erbe zu verraten, noch nicht geboten wurde.
Ein Argument, das im Seminarraum im Rahmen einer produktiven Diskussion mit Studierenden, die man relativ gut kennt, durchaus hilfreich sein mag, kann sich bei dem Versuch, Antisemiten öffentlich Paroli zu bieten, als zutiefst schädlich erweisen.
Bei einem Großteil der Arbeit, die zurzeit zur Bekämpfung des Antisemitismus unternommen wird, besteht das grundlegende Problem, dass diese Unterscheidung gar nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt wird. Immer wieder werden die beiden Dimensionen miteinander verwechselt, oder es wird der Versuch unternommen, beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Ein Argument, das im Seminarraum im Rahmen einer produktiven Diskussion mit Studierenden, die man relativ gut kennt, durchaus hilfreich sein mag, kann sich bei dem Versuch, Antisemiten öffentlich Paroli zu bieten, als zutiefst schädlich erweisen. Daß ein bestimmtes Vorgehen sich bewährt hat, als man jemandem erstmals die Gelegenheit bot, das antisemitische Erbe der Gesellschaft auszuschlagen, heißt noch lange nicht, dass jemand, der diese Gelegenheit schon unzählige Male stur ignoriert hat, sich davon wird überzeugen lassen.
Diese Menschen (die antisemitische Positionen obendrein in der Regel wesentlich vehementer vertreten als es gesamtgesellschaftlich üblich ist) stellen ein ganz besonderes Problem dar. Ich habe in diesem Zusammenhang wiederholt von vorgegaukelter Ignoranz gesprochen. Wir leben in einer Welt, in der von allen verlangt wird, dass sie insbesondere beim Sexismus, beim Rassismus und bei Fragen der sexuellen Orientierung und Genderidentität ihre Sensibilität im Umgang mit einer Vielzahl von Mikroaggressionen nachweisen können. Doch wenn es um den Antisemitismus geht, soll man die übelsten Klopper raushauen und dann behaupten dürfen, man habe unmöglich wissen können, dass die betreffenden Aussagen antisemitisch seien. Die Antisemiten innerhalb und im Umfeld der britischen Labour Party haben so oft behauptet, wir würden in dieser Sache alle einen gemeinsamen Lernprozess durchlaufen, dass mir völlig unklar ist, wie man derartige Behauptungen je wieder wird ernst nehmen können.
Um unnötigen Missverständnissen vorzubeugen: So albern die woke crowd sich auch in diesem Kontext regelmäßig verhält, finde ich, dass man sich mit Mikroaggressionen durchaus ernsthaft auseinandersetzen soll. Als Schwuler bin ich in einer Zeit aufgewachsen, in der es einem angesichts all der allzu handfesten Makroaggressionen albern vorgekommen wäre, sich noch über Mikroaggressionen zu beklagen. Ich weiß nicht, wieviele Schwule es in meiner Generation gibt, die niemals mit antischwuler Gewalt (und oftmals auch der mangelnden Bereitschaft der Polizei, sie angemessen zu schützen) und krassen Formen der familialen und gesellschaftlichen Zurückweisung konfrontiert waren, allzu viele dürften es wohl nicht sein. Ich hoffe sehr, das junge Schwule dem heute zumindest in den westlichen Großstädten in geringerem Maße ausgesetzt sind und es sich eher leisten können, auch den relevanten Mikroaggressionen etwas entgegenzusetzen.
Versuche, gesellschaftliche Prozesse mit technologischen Veränderungen zu erklären, stehe ich in der Regel sehr skeptisch gegenüber, doch in diesem Fall hat der technologische Wandel das Problem meines Erachtens tatsächlich verschärft. Die sozialen Medien haben so viele von uns fest im Griff, und Milliarden Menschen können inzwischen mehr oder weniger jeden Vorgang nach Lust und Laune aufnehmen, filmen und posten. Die Unterscheidung des Privaten oder Halbprivaten (wozu ich Diskussionen im Seminarraum rechnen würde) vom Öffentlichen ist dadurch zunehmends beseitigt worden. Die durchaus schlagkräftige Feststellung, dass das Private politisch sei, ist inzwischen in den Zwang überführt worden, das Private müsse öffentlich sein. Im Übrigen kann keine Institution heute mehr damit rechnen, ohne nennenswerte Präsenz in den sozialen Medien lange fortbestehen zu können. Daher sind diejenigen, die (metaphorisch gesprochen) damit betraut sind, dem Nachwuchs den Glauben an den Weihnachtsmann abzugewöhnen, ständig gezwungen, ihre Produkte auf einem Marktplatz feilzubieten, auf dem sie dann letztlich, allen guten Absichten zum Trotz, den nimmer endenden Hunger der Antisemiten nach Anerkennung wenigstens etwas stillen helfen.
Ich selbst bringe auf Facebook und Twitter häufig meinen Ärger zum Ausdruck, eben weil ich in aller Regel davon ausgehe, dass die Menschen, deren Verhalten ich kommentiere, Antisemiten sind, die ich, ließe ich mich auf eine ernsthafte Diskussion mit ihnen ein, nur aufwerten würde. Es gibt nur eine angemessene Form der Kommunikation mit ihnen: Man muss sie eindeutig als das bezeichnen was sie sind, nämlich Antisemiten, und ihnen jede Form der „Diskussion“ verweigern. Das Vorgehen anderer scheint vorwiegend auf der Annahme zu beruhen, eben jene Leute, die ich nur mit Verachtung strafen würde, seien für Argumente zugänglich. Sie versuchen, Facebook und Twitter gewissermaßen zu einem ganz großen Seminarraum umzufunktionieren. Ich bin mir dabei ziemlich sicher, dass das Risiko, ich könnte Menschen, denen sich bislang noch nie die Gelegenheit bot, das antisemitische Erbe der Gesellschaft auszuschlagen, abschrecken, ungleich kleiner ist als die Gefahr, dass man Antisemiten aufwertet, indem man sie wie Kinder behandelt, die noch an den Weihnachtsmann glauben.
Die Antisemiten werden also ganz genau wissen, was ich meine, wenn ich sie mit Erwachsenen vergleiche, die immer noch glauben, dass der Weihnachtsmann existiert, obwohl ihnen immer wieder die Gelegenheit geboten wurde, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Als ich in diesem Zusammenhang erstmals die Analogie des Weihnachtsmannproblems bzw. der Weihnachtsmannklausel (also jener Ausnahme von der Regel, dass man mit Antisemiten nicht diskutiert) wählte, wusste ich nicht, dass die Antisemiten selbst mir zuvorgekommen waren. Auf dem Cover der Jahresübersicht des britischen Community Security Trust (CST) über antisemitische Vorfälle im Jahr 2015 ist eine antisemitische Weihnachtskarte abgebildet, die in jenem Jahr einer Abgeordneten des Unterhauses zugeschickt wurde. (Die Abbildung befindet sich auch in dem im Oktober 2016 vom Innenausschuss des Unterhauses veröffentlichten Bericht „Antisemitism in the UK“.) Sie zeigt eine erwachsene Person, die ein Kind fragt, ob es noch an den Weihnachtsmann glaube. Darauf fragt das Kind zurück, ob die erwachsene Person noch an den Holocaust glaube. Die Antisemiten werden also ganz genau wissen, was ich meine, wenn ich sie mit Erwachsenen vergleiche, die immer noch glauben, dass der Weihnachtsmann existiert, obwohl ihnen immer wieder die Gelegenheit geboten wurde, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Die folgende Taxonomie ist, wie alle anderen auch, nicht perfekt und deckt nicht wirklich alle denkbaren Fälle ab. Dennoch kann sie meines Erachtens zum besseren Verständnis des Sachverhalts einiges beitragen. Ich behaupte also, dass man die Menschen und Institutionen, die sich ihrer eigenen Auffassung zufolge auf kritische Weise mit dem Antisemitismus befassen, im Allgemeinen zwei Teams zuordnen kann, die ich Team A und Team B nennen werde. Anhand der folgenden Vergleichspunkte kann man die beiden Teams ohne allzu große Schwierigkeiten unterscheiden:
In der Wissenschaft hat Team B Team A inzwischen weitestgehend verdrängt, und wichtige Vorzeigeinstitutionen wie das Pears Institute for the Study of Antisemitism in London und das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin haben sich der Agenda von Team B mit großer Leidenschaft verschrieben.
Sieht man von der Frage des israelbezogenen Antisemitismus einmal ab, sind all diese Gegensätze nicht ganz so eindeutig, wie sie erscheinen mögen. Niemand in Team A würde bestreiten, dass der Antisemitismus auch bestimmte generische Eigenschaften mit anderen Formen des ‚othering‘ teilt. Beide Teams stellt die Frage der Singularität der Schoa vor Herausforderungen. Beharrt man darauf, dass die Schoa sich wirklich von allem unterscheidet, was ansonsten stattgefunden hat oder je stattfinden wird, erübrigt sich der von Adorno identifizierte neue kategorische Imperativ, den Auschwitz der Menschheit beschert hat, da er nie zur Anwendung käme. Geht man andererseits davon aus, dass die Schoa eines von unzähligen Verbrechen sei, verliert sie ihren Wert als Symbol und Quelle der Legitimation. Je mehr Phänomene man in den gleichen Topf wie Auschwitz wirft, desto weniger gewinnt man dadurch, dass man sie (in welchem Maße auch immer) mit Auschwitz gleichsetzt. Gerade postkoloniale Theorieansätze leiden an diesem Widerspruch zwischen der Behauptung, alles sei ebenso schlimm wie Auschwitz, und der teils beabsichtigten, teils unbeabsichtigten Konsequenz, dass Auschwitz offenbar auch nicht schlimmer als alles andere war. Hegelianisch ausgedrückt, könnte man vielleicht sagen, die Schoa stelle uns vor ein komplexes Problem der Dialektik der Identität und Nichtidentität mit unserer eigenen Wirklichkeit. Schließlich würde auch niemand in Team A bestreiten, dass Individuen beim Treffen ihrer persönlichen Entscheidungen und in der Wahrnehmung ihrer persönlichen Verantwortung in erheblichem Maße von zahlreichen strukturellen Faktoren beeinflusst werden. Wie bei so vielen Sachverhalten, geht es auch hier nicht wirklich um entweder/oder-Fragen, sonder darum, in welchem Maße beides eine Rolle spielt. Sicher gibt es Angehörige beider Teams, die mitunter absurde Extrempositionen vor(ge)tragen (haben). Allerdings kommt dies in Team B weit häufiger vor. Selbst dann sind die Angehörigen von Team A wenigstens noch immer mit dem Antisemitismus befasst, während Angehörige von Team B immer wieder eine ungeheure Kunstfertigkeit darin bewiesen haben, ihn gänzlich zum Verschwinden zu bringen, auch wenn sie seinen Namen gelegentlich noch im Munde führen.
Beim israelbezogenen Antisemitismus, um den es mir hier in erster Linie geht, liegen die Dinge dagegen wesentlich einfacher. In dieser Hinsicht hat die berühmt-berüchtigte IHRA Antisemitismusdefinition (womit immer die Definition und die mit ihr bereitgestellten Beispiele gemeint sind) Wunder gewirkt. Zum einen benennt sie spezifische Arten von Aussagen über Israel, die antisemitisch sind, und bietet damit eine Art Checkliste. Zweitens hat die explizite Klarstellung, dass „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch“ gilt, eine Klarstellung, die man ja auch für eine recht unappetitliche apologetische Schutzbehauptung halten könnte, sich als ganz großer Wurf erwiesen. Sie entlarvt den Antisemitismus, der all den endlosen Klagen, die Definition verunmögliche legitime Kritik an Israel, zwangsläufig innewohnt, denn diese Klage können ja nur jene geltend machen, die meinen, man solle an Israel tatsächlich andere Maßstäbe als an andere vergleichbare Fälle anlegen. Wer das nicht will, braucht sich um die Definition gar keine Sorgen zu machen.
Meine Kernthese lautet nun, dass infolge des scharfen Gegensatzes in Sachen israelbezogener Antisemitismus mindestens 80 Prozent aller relevanten Auseinandersetzungen völlig sinnlos und die reinste Zeitverschwendung sind, da die Angehörigen der beiden Teams nur immer wieder aufs Neue aneinander vorbeireden.
Meine Kernthese lautet nun, dass infolge des scharfen Gegensatzes in Sachen israelbezogener Antisemitismus mindestens 80 Prozent aller relevanten Auseinandersetzungen völlig sinnlos und die reinste Zeitverschwendung sind, da die Angehörigen der beiden Teams nur immer wieder aufs Neue aneinander vorbeireden.
Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, beziehe ich mich zur Veranschaulichung auf Bill Clintons umwerfende Behauptung, folgte man der von seinen Anklägern vorgelegten Definition, habe Monica Lewinsky zwar mit ihm, er aber nicht mit ihr Sex gehabt. Einmal davon abgesehen, dass sie eingängig und einprägsam ist, wähle ich diese Analogie, weil sie mehrere Probleme illustriert, mit denen wir es im Zusammenhang mit dem israelbezogenen Antisemitismus auch zu tun haben.
Alle drei Faktoren werden jedem, der schon einmal an einer kontroversen Diskussion zum Thema Antisemitismus beteiligt war, nur allzu bekannt vorkommen. Dummerweise leidet die Beweiskraft dieser Analogie daran, dass ich Clintons Verhalten für eine perfekte Illustration der absurden Vorgehensweise halte, mit der die Angehörigen von Team B den israelbezogenen Antisemitismus leugnen, diese selbst mein Verhalten aber auf gleiche Weise charakterisieren würden. Die Reichweite der formalen Analogie wird von der Frage, wer Recht hat, eindeutig begrenzt. Als Schwuler, der sich seit seiner Geburt keiner Vagina mehr genähert hat, mag ich vielleicht nicht beurteilen können, was ‚richtiger‘ heterosexueller Sex ist. Mit Gewissheit kann ich aber sagen, dass niemand mich je davon wird überzeugen können, Clintons Behauptung, er habe, während Lewinsky mit ihm Sex hatte, keinen Sex mit ihr gehabt, sei irgendwie ernst zu nehmen. So oder so zeigt die Analogie aber sehr gut, warum es wirklich keinen Sinn hat darauf zu hoffen, die beiden Teams könnten sich in Sachen israelbezogener Antisemitismus je einigen.
Spielen wir den Sachverhalt einmal gedanklich durch. Sagen wir, ich, der ich Team A angehöre, schlage Alarm, weil eine bestimmte Äußerung oder Verhaltensweise meines Erachtens ein Ausdruck israelbezogenen Antisemitismus ist. In aller Regel werden die Urheber der Äußerung oder des betreffenden Verhaltens keineswegs ableugnen, dass sie das, was ich ihnen vorwerfe, in der Tat gesagt oder getan haben, ja, oftmals werden sie es mit großen Stolz zugeben.
An dieser Stelle eine kleine Abschweifung: In dieser Hinsicht ist die jüngste Kontroverse um Mbembe durchaus ungewöhnlich, angefangen damit, dass Mbembe selbst mit Blick auf die Dinge, die er gesagt, geschrieben und getan hat, wiederholt schlicht gelogen hat. Seine Verteidiger sind meist wie jener Dieb vorgegangen, der zunächst behauptet, er habe den betreffenden Gegenstand gar nicht an sich genommen, sollte er ihn aber doch an sich genommen habe, habe er ihm ohnehin gehört, und wenn der Buchstabe des Gesetzes die Behauptung, er sei der rechtmäßige Besitzer des Gegenstands gewesen, nicht bestätigen sollte, so doch gewiss der Geist des Gesetzes, oder aber das Gesetz widerspricht eben dem Naturrecht, zumal der Richter doch die mildernden Umstände berücksichtigen müsse bzw., da es keine mildernden Umstände gebe, immerhin berücksichtigen, welche Not es seiner Familie bereiten würde, sollte er bestraft werden bzw., da er keine Familie hat, wieviel schwerer es für ihn dann sein würde, eine Familie zu gründen, was er zwar nicht beabsichtige, doch müsste der Richter doch eigentlich von dem Erfindungsreichtum, mit dem er, der Angeklagte, seine Verteidigung betrieben habe, inzwischen hinreichend beeindruckt sein, um ihn ganz unabhängig von den Tatsachen freizusprechen. Mbembe hat das nicht gesagt, geschrieben, getan, hieß es. Nun gut, er hat das doch gesagt, geschrieben, getan, es ist aber falsch interpretiert worden. Nun gut, es ist nicht falsch interpretiert worden, doch ist das seinem eigentlich Werk alles ganz äußerlich. Nun gut, tatsächlich spielen diese Dinge in seinem Werk eine ganz zentrale Rolle, aber das ist nicht so schlimm, denn der Mann kommt aus Afrika, und wer seine guten Absichten anzweifelt, kann nur ein Rassist sein. Überhaupt sind seine Kritiker alle Neonazis, wodurch ihre Behauptungen automatisch jeden Wert verlieren, ganz gleich, wie wahr sie sind. Und selbst wenn die Beschuldigungen bei Mbembe wirklich zutreffen, schafft man, wenn man das offen ausspricht, nicht ein Klima, in dem andere allzu leicht auch zu Unrecht beschuldigt werden könnten? Also mal ganz im Ernst, wenn man nicht einmal mehr behaupten kann, alle Schlechtigkeit der Welt rühre von der biblischen Religion der Juden her, und nichts und niemand verkörpere diese Schlechtigkeit der Welt so wie Israel, ohne gleich als Antisemit abgetan zu werden, dann ist die Redefreiheit doch längst tot. Und immer so weiter. Ende der Abschweifung.
Im Regelfall also werden diejenigen, die ich des israelbezogenen Antisemitismus beschuldigen würde, keineswegs bestreiten, dass sie für die betreffende Äußerung oder Handlung verantwortlich sind, sehr wohl aber, dass die betreffende Äußerung oder Handlung auch nur das geringste mit Antisemitismus zu tun habe. Würde ich nun behaupten, Angehörige von Team B würden, indem sie sich dieser Ansicht anschließen, Antisemitismusrelativierung, -minimierung oder -leugnung betreiben, würden diese das als eine unsinnige Äußerung weit von sich weisen und das, aus ihrer Sicht, völlig zu Recht. Denn aus ihrer Sicht war ja in dem betreffenden Fall gar kein Antisemitismus zu verzeichnen, wie also hätten sie den nicht vorhandenen Antisemitismus denn relativieren, minimieren oder leugnen können? Man könnte gerade so gut ein gemischte Gruppe aus Schwulen und Heteros in einen Raum sperren und ihnen sagen, sie würden erst wieder herausgelassen, wenn sie sich darauf geeinigt hätten, ob Männer oder Frauen sexuell attraktiver seien. Allerdings versagt auch diese Analogie, wenn man von der Form zum Inhalt wechselt. Mit den Jahren habe ich mich zwar mit dem Gedanken angefreundet, dass das Begehren heterosexueller Männer unter bestimmten Umständen vielleicht auch eine legitime Option darstellen kann, in der Frage des israelbezogenen Antisemitismus dagegen hat Team A unzweifelhaft Recht und Team B ebenso unzweifelhaft Unrecht.
Mit Hilfe der Clintonkluft lässt sich auch leicht erklären, warum die allermeisten (oftmals hitzigen) Auseinandersetzungen über den Antisemitismus in der Labour Party völlig sinnlos waren und sind. Von entscheidender Bedeutung ist es dabei zu begreifen, dass das Verhalten der zahlreichen Antisemiten innerhalb und im Umfeld der Labour Party zwei scheinbar widersprüchliche Dimensionen vereint. Zum einen ist es von dem Bedürfnis getragen, Tabus zu brechen, mutwillig und demonstrativ Dinge zu äußern und zu tun, von denen sie ganz genau wissen, dass andere sie für antisemitisch halten. Und dennoch lügen sie nicht bewusst, wenn sie im Brustton der Überzeugung darauf bestehen, ihr Verhalten habe mit Antisemitismus aber auch nicht das Allergeringste zu tun. Sie verhalten sich, anders ausgedrückt, genauso wie Bill Clinton: Sie wissen ganz genau, dass sie an der an ihnen geäußerten Kritik mutwillig vorbei plappern, und sind dennoch von der Wahrhaftigkeit ihrer Schutzbehauptungen zutiefst überzeugt.
Wären die gleichen Leute gezwungen, statt einfach nur ihren Antisemitismus zu leugnen, den Nachweis zu erbringen, dass ihr Verhalten nicht gegen die in der Antisemitismusdefinition der IHRA dargelegten Standards verstößt, stünden sie plötzlich gänzlich nackt da. Darum hat diese Definition ja auch Unmengen wütende Abwehr provoziert. Dabei leistet sie genau das, was sie leisten soll: Sie setzt in einer kontroversen Frage eindeutige Standards. Ich persönlich finde, dass sie ihren Zweck ziemlich gut erfüllt, aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache. Die meisten Menschen wären durchaus fähig festzustellen, dass dieses oder jenes Verhalten zwar rechtlich untersagt sei, ihres Erachtens aber legalisiert werden sollte, ohne darum gleich Herzrhythmusstörungen zu bekommen oder in Ohnmacht zu fallen, geschweige denn zu verlangen, das gesamte Strafgesetzbuch müsse auf der Stelle außer Kraft gesetzt werden. Analog gibt es auch keinen Grund, warum Angehörige von Team B nicht sollten leidenschaftslos einräumen können, dass bestimmte Äußerungen und Verhaltensweisen von der Antisemitismusdefinition der IHRA als antisemitisch bezeichnet werden, obwohl sie selbst finden, dass das ein Fehler ist. Das würde immerhin gewährleisten, dass alle Parteien tatsächlich wissen, was denn eigentlich zur Diskussion steht, auch und gerade, wenn ihre Interpretationen dann voneinander abweichen.
Es ist bezeichnend, das Angehörige von Team B sich zwar immer wieder große Mühe gegeben haben, die Antisemitismusdefinition des IHRA nach Kräften zu desavouieren, es bis heute aber keine breit unterstützte Initiative gegeben hat, eine alternative Definition zu entwickeln und offensiv zu propagieren. Das liegt daran, dass Team B (vorerst noch) nur gedeihen kann, solange es sich darauf beschränkt, Verwirrung zu stiften, und über Andeutungen und Unterstellungen möglichst nicht hinausgeht. Daher wäre eine ihren so wortreich und leidenschaftlich vorgetragenen Bedenken Rechnung tragende alternative Antisemitismusdefinition, einfach, weil auch sie wohl oder übel irgendwelche mehr oder weniger klar umrissenen Maßstäbe setzen müsste, aus ihrer Sicht gerade so schädlich wie jene der IHRA.
Würden die Angehörigen von Team B, anstatt immer bloß Team A und der Antisemitismusdefinition der IHRA vorzuwerfen, sie zögen die Trennungslinie zwischen legitimer Kritik an Israel und dem israelbezogenen Antisemitismus an der falschen Stelle, gezwungen, selbst zu bezeichnen wo diese Linie denn ihres Erachtens gezogen werden sollte, wäre das Ergebnis vermutlich für all beteiligten Parteien in hohem Maße erhellend. Was sich ohnehin schon bedrohlich deutlich abzeichnet, würde dann in aller Eindeutigkeit hervortreten, dass nämlich allzu viele Angehörige von Team B der Auffassung sind, es müsse gestattet sein, Israel das Recht abzusprechen, als jüdischer Staat in sicheren Grenzen, die es im Ernstfall tatsächlich verteidigen könnte, zu existieren, ja sogar, die vollständige Beseitigung des jüdischen Staats Israel zu fordern, ohne darum als Antisemit zu gelten. Solange es noch nicht als völlig opportun gilt, diese Dinge laut auszusprechen, stellt das unaufhörliche Infragestellen der Antisemitismusdefinition der IHRA die nächstbeste Option dar.
Allzu viele Angehörige von Team B sind der Auffassung, es müsse gestattet sein, Israel das Recht abzusprechen, als jüdischer Staat in sicheren Grenzen, die es im Ernstfall tatsächlich verteidigen könnte, zu existieren, ja sogar, die vollständige Beseitigung des jüdischen Staats Israel zu fordern, ohne darum als Antisemit zu gelten. Solange es noch nicht als völlig opportun gilt, diese Dinge laut auszusprechen, stellt das unaufhörliche Infragestellen der Antisemitismusdefinition der IHRA die nächstbeste Option dar.
Jetzt mal ganz ehrlich: Wann haben sie zuletzt im Zusammenhang mit einer entsprechenden Kontroverse etwas gehört oder gelesen, das dem, was sie auf Anhieb gewusst hätten, wenn der Urheber der entsprechenden Äußerungen ihnen nichts anderes mitgeteilt hätte, als dass er oder sie eher Team A als Team B (oder umgekehrt) zuneige, wirklich noch etwas Lohnenswertes hinzugefügt hat? Mir ist zwar bewusst, dass zahlreiche Experten und öffentliche Intellektuelle mit diesem Geschäft einiges an Geld erwirtschaften, aber stellen sie sich doch einfach mal vor, was wir an Zeit, Mühe und Ressourcen sparen und produktiver einsetzen könnten, wenn in Zukunft jeder, der versucht ist, sich zu einem spezifischen antisemitischen Vorfall zu äußern, es dabei bewenden ließe, klarzustellen, dass er auch dieses Mal wieder auf der Seite von Team A oder B ist, und nur dann noch etwas hinzufügte, wenn damit wirklich etwas ausgeführt wird, was durch die anfängliche Klarstellung nicht bereits abgedeckt wurde; wenn wir einander versprechen würden, uns nur noch dann detailliert zu äußern, wenn der Fall wirklich einmal nicht klar ist, beispielsweise, wenn ein Vorfall sich auch mit Hilfe der Antisemitismusdefinition der IHRA nicht eindeutig zuordnen lässt. Gehörte ich Team B an, bräuchte ich in den allermeisten Fällen bloß zu bestätigen, dass der betreffende Sachverhalt zwar der Antisemitismusdefinition der IHRA zufolge antisemitisch sei, ich aber bekanntlich ein Gegner der Definition sei. Umgekehrt werden die Vertreter von Team A die Angehörigen von Team B eh nie von ihrem Irrglauben abbringen können und tragen, indem sie es immer wieder versuchen, nur dazu bei, deren Irrglauben noch als diskussionswürdigen Standpunkt zu legitimieren. Denn auch hier muss zwischen der formalen und inhaltlichen Ebene unterschieden werden. Die Leute von Team B meinen zwar, es sei Team A, das dem Irrglauben verfallen sei, doch hat Team A eben Recht und Team B Unrecht.
Wenn es ihnen in Wirklichkeit nur darum geht, die einmal erarbeiteten, immer gleichen, schon anlässlich der letzten siebentausend antisemitischen Vorfälle wiederholten Bemerkungen zum Antisemitismus auch in Zukunft bei jeder geeigneten und ungeeigneten Gelegenheit nochmals zu wiederholen, würde ich vorschlagen, dass sie die betreffenden Bemerkungen einmal an einem leicht zugänglichen Ort veröffentlichen. Dann kann man Interessierte anlässlich jeder neuen Kontroverse einfach an diesen Ort schicken. Kommt der nächste antisemitische Skandal (woran ja kein Zweifel bestehen kann), können sie die Öffentlichkeit dann einfach darauf hinweisen, dass ihre Bemerkungen an diesem Ort weiterhin leicht zugänglich sind. So brauchen sie ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden, so zu tun, als seien ihre Bemerkungen nie aktueller und gültiger gewesen als gerade in diesem Fall. Diejenigen, die ihnen zustimmen würden, brauchen ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden nachzusehen, ob sie dieses Mal womöglich doch etwas Neues geäußert haben. Diejenigen, die ihnen nicht zustimmen würden, brauchen ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden nachzusehen, ob sie ihren Standpunkt plötzlich verändert haben. Und niemand muss so tun, als glaubten wir, einander umstimmen zu können, indem wir immer wieder den gleichen Tanz aufführen. Dass die Angehörigen von Team B mit der bisher gängigen Praxis ganz gut leben können, leuchtet mir noch halbwegs ein. Die Angehörigen von Team A aber, sofern sie sich selbst ernst nehmen, müssten sich doch eigentlich viel zu viele Sorgen um die tatsächlich sehr ernsthafte vom Antisemitismus ausgehende Bedrohung machen, um diese sinnlose Zeitverschwendung fortzusetzen.
Ja aber, höre ich sie fragen, warum halte ich denn dann nicht endlich die Klappe? Auf diese Frage habe ich zur Abwechslung mal eine wirklich ganz einfache Antwort: Weil ich gerade dabei bin, mit diesem Blog jenen einfach zugänglichen Ort zu schaffen, an den ich sie anlässlich der nächsten siebentausend Antisemitismusskandale zu schicken gedenke, es sei denn, es gäbe wirklich einmal etwas Neues zu sagen.
Dieser Text ist Teil einer grundsätzlicheren Kritik an der Arbeit des Pears Institute for the Study of Antisemitism in London, einem An-Institut am Birkbeck College (University of London), das in diesem Jahr seit zehn Jahren besteht. Hier geht es mir um die 2018 veröffentlichte Metastudie „Antisemitismus und Immigration im heutigen Westeuropa. Gibt es einen Zusammenhang? Ergebnisse und Empfehlungen einer Studie aus fünf Ländern“. Sie fasst die Ergebnisse eines größeren von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) in Auftrag gegebenen und vom Direktor des Pears Institute David Feldman geleiteten, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung durchgeführten Forschungsprojekts zusammen.
Die Schlussfolgerungen dieser Metastudie sind zwar verschiedentlich auf der politischen Ebene kritisiert worden, doch scheint sich bislang kaum jemand ernsthaft mit ihrer Methodik, um die es mir hier in erster Linie geht, befasst zu haben. Allerdings wird sich recht bald zeigen, dass sich die Fragen ihrer Methodik nicht ohne weiteres von der politischen Ausrichtung der Studie trennen lassen. Ich wollte diese Kritik eigentlich gleich nach Erscheinen der Studie verfassen, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass ich sie irgendwo würde veröffentlichen können. Daher habe ich die folgenden kritischen Bemerkungen erst jetzt zusammengestellt, da ich das Ergebnis in meinem Blog veröffentlichen kann. Immerhin hat das den Vorteil, dass ich mich nicht auf Euphemismen verlegen muss, um die Kritik irgendwie durch die peer review zu schmuggeln, und die ganze Sache auf eine etwas unterhaltsamere Weise vortragen kann, die vielleicht auch einem breiteren Publikum zugänglich ist. Im Übrigen ist diese Diskussion wie gesagt Teil einer umfassenderen Kritik am Pears Institute. Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich diese nicht unternehme, um den Kollegen des Pears Institute mutwillig das Leben schwer zu machen, sondern weil ich glaube, durch meine Kritik mit Blick auf die Erforschung des Antisemitismus, momentane Bestrebungen, ihn zu bekämpfen, und den Zusammenhang zwischen beidem, auf wichtige Fragen hinweisen zu können.
Ich gehöre gewiss nicht zu jenen, die von sich behaupten würden, sie seien irgendwie „objektiv“, und ich bin keineswegs ein Gegner der parteiischen Wissenschaft. Andernfalls müsste ich auch all meine eigenen Arbeiten in Bausch und Bogen verwerfen. Mit parteiischer Wissenschaft haben wir es allerdings nur zu tun, wenn sie nicht nur parteiisch, sondern auch wissenschaftlich ist, sich also transparenten methodologischen Standards verpflichtet weiß, und ihre Schlussfolgerungen nicht einfach nur in den Raum stellt, sondern zeigt, warum die eigenen Schlüsse plausibler sind als die Alternativen.
Mit parteiischer Wissenschaft haben wir es allerdings nur zu tun, wenn sie nicht nur parteiisch, sondern auch wissenschaftlich ist.
Es spricht auch gar nichts dagegen, Forschungsvorhaben durchzuführen, um eine bestimmte bereits bestehende Annahme zu bestätigen. Dieses Vorgehen dürfte wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellen, auch wenn Wissenschaftlicher dies oftmals weder sich selbst noch anderen gegenüber zugeben mögen. Allerdings muss man sehr genau darüber nachdenken, wie die eigenen bereits bestehenden Annahmen die eigene Wahrnehmung womöglich auf problematische Weise beeinflussen und einen in Versuchung führen könnte, die eigene Argumentation kurzzuschließen und Tatsachen anzuführen, die sich zwar auf den ersten Blick mit den eigenen Annahmen zu decken scheinen, diese aber bei genauerer Untersuchung nicht wirklich belegen.
Dass man sich aus Datenbeständen Rosinen herauspickt, die andere anders eingeschätzt haben als man selbst, gehört auch zum völlig legitimen Handwerk. Oftmals führt die Frage, warum unterschiedliche Wissenschaftler ein und denselben Datenbestand unterschiedlich ausgewertet haben, sogar zu besonders instruktiven Beobachtungen (womit ich allerdings keinesfalls sagen will, jede Interpretation sei gerade so gut wie jede andere). Problematisch wird das Ganze jedoch, wenn man sich auch unter den Interpretationen die Rosinen herauspickt. Wenn ein und derselbe Autor bzw. ein und dieselbe Publikation mit Blick auf den gleichen Kontext und auf Grundlage der gleichen Daten sowohl Schlüsse zieht, die einem passen, als auch solche, die einem widerstreben, besteht immerhin die Gefahr, dass auch die vermeintlich korrekte Schlussfolgerung auf einer fehlerhaften Ableitung beruht.
Schließlich sollte man sich zu seinen eigenen Intentionen unumwunden bekennen. Wenn mir Schumann wesentlich mehr zusagt, ich aber aus irgendwelchen Gründen gezwungen bin oder mich verpflichtet fühle, ein Buch über Schubert zu schreiben, sollte es dann wirklich ein Buch über Schubert sein und nicht ein Manifesto, das den Lesern Schumanns Überlegenheit einbläut und ihnen erklärt, dass ein Buch über Schubert sie gar nicht zu interessieren habe.
Es wäre töricht von mir, verbergen zu wollen, dass ich in der Tat davon ausgehe, dass Feldman und seine Kollegen dazu geneigt haben, und es auch von vornherein darauf anlegten, die Bedeutung des Antisemitismus unter muslimischen Migranten in Westeuropa im Allgemeinen und den in den Jahren 2014 bis 2016 eingewanderten Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak im Besonderen klein zu reden. Allerdings wäre fast alles, was ich im Folgenden zu sagen habe, auch dann gültig, wenn ich mit Feldman und seinen Kollegen in jeder Nuance übereinstimmen würde. In öffentlichen Debatten und der politischen Auseinandersetzung mag es zu viel verlangt sein, dass ‚richtige‘ Schlussfolgerungen nicht auf falschen Ableitungen beruhen dürfen, doch unter Geistes- und Sozialwissenschaftlern können Schlussfolgerungen, die auf falschen Ableitungen beruhen, nicht richtig sein.
Den forschen Ton von Feldmans Metastudie kann man schwer übersehen. Ein Vergleich zwischen dem ersten Zug Feldmans und dem von Günther Jikeli in seiner teilweise ähnlich gelagerten Studie Einstellungen von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak zu Integration, Identität, Juden und Shoah mag ihn in ein noch schärferes Licht rücken. Feldman beginnt wie folgt:
Zuwanderer, die aus der Region Nahost und Nordafrika nach Europa kommen, bilden seit 2011 das symbolische Zentrum der Migrationsdebatte. … Im Rahmen dieser Debatte wird immer wieder geäußert, dass neue Migranten, und insbesondere Zuwanderer aus der Region Nahost und Nordafrika (MENA-Migranten), Antisemitismus mit nach Europa brächten. Diese Behauptung wird in verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Formen geäußert. Dennoch ist die Verknüpfung von zunehmendem Antisemitismus mit Zuwanderern aus Nahost und Nordafrika in Europa weit verbreitet und muss evaluiert werden (S. 7).
Und hier Jikeli zum Vergleich (p. 4):
Der Anstieg von Antisemitismus in Deutschland und weltweit führt zu einer großen Beunruhigung … Antisemitismus lässt sich nicht auf einzelne gesellschaftliche Gruppen beschränken. Er findet sich sowohl im rechten und linken politischen Spektrum als auch in der gesellschaftlichen Mitte. Auch Zuwanderer sind nicht frei von Antisemitismus. … Vor dem Hintergrund, dass eine relativ große Zahl von Geflüchteten aus Ländern kommt, in denen Judenhass Teil der staatlichen Propaganda und Schulbildung ist, stellt sich aber die berechtigte Frage, ob die Gefahr des Antisemitismus mit den jüngsten Zuwanderern steigt und wenn ja, was getan werden kann, um dem zu begegnen.
Der Eindruck, der sich bei der Lektüre von Feldmans Metastudie eh aufdrängt, ist hier umso deutlicher zu spüren. Für Feldman ist es nicht der mögliche Antisemitismus eines Teils der Migranten oder Flüchtlinge, der das Problem darstellt, sondern die Behauptung, dass dieser Antisemitismus (den er natürlich auch nicht leugnen kann) Beachtung verdient. Sein eigentlicher Bezugsrahmen ist die „Migrationsdebatte“ und deren ‚Symbolik‘. Dagegen sieht Jikeli das Problem im möglichen Antisemitismus unter Flüchtlingen und dessen möglicher Bedeutung. Feldman will einer seines Erachtens rassistische Wahrnehmungsweise diskreditieren, Jikeli will herausfinden, ob Antisemitismus unter den Flüchtlingen tatsächlich ein Problem darstellt und, falls ja, was dagegen getan werden könnte.
Nun gibt es ja mindestens zwei weitere entscheidende Unterschiede zwischen diesen beiden Studien. Zum einen geht Feldman davon aus, dass der Antisemitismus in den letzten Jahren nicht nur nicht zugenommen, sondern in Wirklichkeit abgenommen hat. Er räumt zwar ein, dass etliche Juden und jüdische Organisationen das anders sehen, doch ist er sich sicher, dass relevante Statistiken seine Annahme bestätigen. Damit wird Jikeli umgehend zum Panikmacher, da sein Ansatzpunkt ja die Sorge um einen vermeintlichen Anstieg des Antisemitismus ist, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Zum andern war das von Feldman geleitete Forschungsprojekt wesentlich breiter angelegt als Jikelis Studie. Man kann sich ganz gut vorstellen, was sich da zugetragen hat. Zunächst gab es schon seit Längerem eine Diskussion darüber, welche Auswirkungen die seit Jahrzehnten stattfindende vermehrte Einwanderung von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern haben könnten. Dabei spielte der Antisemitismus meist eine untergeordnete Rolle, obwohl die islamistischen Terroranschläge auf jüdische Individuen und Einrichtungen in Westeuropa im letzten Jahrzehnt gelegentlich etwas mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenkten. (Da es sich hierbei um eine deskriptive und nicht um eine normative Aussage handelt, brauche ich mich zum Verhältnis von Islam und Islamismus an dieser Stelle nicht zu äußern.) Dann fand vor allem 2015 die Masseneinwanderung von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Irak statt, die verstärkt zu Sorgen um deren möglichen bzw. wahrscheinlichen Antisemitismus führte. Schließlich konnte ja niemand bestreiten, dass in deren Herkunftsländern antisemitische Wahnvorstellungen nicht nur für selbstverständliche Wahrheiten gehalten, sondern als solche auch systematisch propagiert und der Bevölkerung anerzogen werden. Es kommt ja wohl nicht von ungefähr, dass von den Beispielen, die Feldman für die seines Erachtens unbegründete Panikmache bezüglich der angeblichen Verbindung zwischen „Muslimen“ und Antisemitismus präsentiert, eines aus dem Jahr 2015 und die übrigen aus den Jahren 2016 und 2017 stammen.
Statt sich nun aber gezielt diesem Problem zuzuwenden, hat irgend ein inspiriertes Individuum oder eine begnadete Gruppe von Individuen sich gedacht, man könne die Gelegenheit, sich vor dem Hintergrund dieser aktuellen Debatte über die Flüchtlinge ein gut verkäufliches Forschungsprojekt fördern zu lassen, auch nutzen, um gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Das konnte natürlich nur zu unnötiger Verwirrung führen. Wenn man eben angekommene Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in denselben Topf wirft wie Migranten aus der Türkei, die seit zwei oder drei Generationen in Deutschland leben, Migranten aus Algerien, Marokko und Tunesien, die seit zwei oder drei Generationen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden leben, und Migranten vom indischen Subkontinent, die seit zwei oder drei Generationen im Vereinigten Königreich leben, ist es ja nicht eben verwunderlich, wenn man am Ende über keine der betreffenden Gruppen wirklich etwas Genaues weiß. Es ist nicht ohne Ironie, dass damit eine Vorgehensweise gewählt wurde, der sonst die Kritik Feldmans und seiner Kollegen gilt: Es werden alle Muslime bzw. alle Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern (ob Feldman diese Unterscheidungen verstehen würde, sei dahingestellt) in einen Topf geworfen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass damit eine Vorgehensweise gewählt wurde, der sonst die Kritik Feldmans und seiner Kollegen gilt: Es werden alle Muslime bzw. alle Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern (ob Feldman diese Unterscheidungen verstehen würde, sei dahingestellt) in einen Topf geworfen.
Für ihn hat diese Verfahrensweise drei entscheidende Vorteile.
Feldmans eigentliche Intention verdeutlicht auch der Abschnitt „Gesellschaftliche und politische Konzentrationen“, in dem diskutiert werden soll, „ob es, ungeachtet des Gesamtbildes“, also des allgemeinen Rückzugs des Antisemitismus, „in bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Gruppen einen hohen oder zunehmenden Grad an Antisemitismus gibt“ (S. 23). Es folgen zwei Unterabschnitte: „Muslime und Antisemitismus“ und „Antisemitismus und Rechtsextremismus“. Dass Feldman, der maßgeblich an dem von Shami Chakrabarti vorgenommenen Versuch, das Ausmaß des Antisemitismus in der Labour Party zu vertuschen, beteiligt war, sich sicher ist, dass es auf der Linken bestimmt nichts zu sehen gibt, kann kaum überraschen. Doch wie kommt der Abschnitt zu „Antisemitismus und Rechtsextremismus“ hierher, zumal die Studie ohnehin an jeder passenden und unpassenden Stelle darauf hinweist, dass die einzige wirkliche Gefahr vom rechtsextremen Antisemitismus ausgeht?
Es handelt sich hierbei um eine elaborate Form dessen, was man im Englischen whataboutism nennt, also den Impuls, auf Anwürfe, die einem selbst unangenehm sind, mit „ja, aber was ist mit…“ zu antworten, um so die Aufmerksamkeit auf das Ungenügen anderer umzulenken.
Es handelt sich hierbei um eine elaborate Form dessen, was man im Englischen whataboutism nennt, also den Impuls, auf Anwürfe, die einem selbst unangenehm sind, mit „ja, aber was ist mit…“ zu antworten, um so die Aufmerksamkeit auf das Ungenügen anderer umzulenken. In der Einleitung darauf hinzuweisen, dass man die Form des Antisemitismus, mit der man sich in dieser Studie befasst, nicht für die gefährlichste hält, ist ja das eine. Dass man diesen Hinweis dann mehrmals wiederholt, mag auch noch hingehen. Doch gleich einen ganzen eigenen Abschnitt zu der Form des Antisemitismus, um die es in dieser Studie nicht geht? Dass der durchschnittliche Antisemitismus unter muslimischen Migranten in Westeuropa den der Gesamtbevölkerung um ein vielfaches übersteigt, kann auch Feldman nicht bestreiten. Doch geht es ihm eben weder um diesen Antisemitismus noch um dessen Bedeutung. Man kann nur folgern, dass er es für völlig illegitim hält, diese Fragestellung überhaupt zu verfolgen, weil sie lediglich vom rechtsextremen Antisemitismus ablenkt und ihm damit letztlich zuarbeitet.
Hier noch ein weiteres Beispiel für die verschrobene Art, in der dieses Forschungsprojekt angelegt wurde. Nicht nur Feldman und seine Kollegen, sondern etliche Forscher, die in diesem Bereich tätig sind, empören sich regelmäßig über die „Behauptung“, die Flüchtlinge würden den Antisemitismus aus ihren Herkunftsländern „mitbringen“ oder „importieren“. Diese Behauptung ist offenbar niederträchtig im Extrem und zutiefst rassistisch. Aber ist es denn nicht völlig selbstverständlich, dass Menschen, wenn sie in ein anderes Land ziehen, allerlei Ansichten und Gewohnheiten mit sich bringen, so sehr die Integration in ihrem neuen Land diese dann verändern mag? Wir werden doch oft auf die wunderbaren Beiträge hingewiesen, die Migranten zu unserer Kultur leisten. Nur der Antisemitismus kommt offenbar nicht mit. Ich hole etwas aus: Deutschland produziert eigene Tomaten, importiert aber auch Tomaten aus anderen Ländern. Es importiert auch Gemüsesorten, die in Deutschland nicht gedeihen. Man kann doch einräumen, dass Deutschland exotische Früchte importiert, ohne damit die Existenz oder Bedeutung heimischer Tomaten in Abrede zu stellen. Erst eine gewissermaßen merkantilistische Sichtweise (es gibt nur ein endliches Maß an Kritik, wenn ich sie gegen eine Form des Antisemitismus einsetze, muss ich die anderen daher gewähren lassen) bzw. das Bedürfnis, gewissen Formen des Antisemitismus aus welchen Gründen auch immer die Bedeutung abzusprechen, lässt die Behauptung, Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak würden antisemitische Sichtweisen und Überzeugungen, die man ihnen dort nachweislich beizubringen versucht hat, in ihre neuen Ländern mitbringen oder importieren, bedenklich erscheinen. Dabei können wir uns einer Tatsache absolut sicher sein: An Formen des Antisemitismus, die wir bekämpfen können, wie es uns gewiß nie mangeln!
Es bedarf noch einer weiteren Vorbemerkung. Sozialwissenschaftler legen großen Wert auf die Qualitätskontrolle. In unserem Zusammenhang bedeutet das zunächst einmal, dass Leute nicht einfach in der Weltgeschichte herumlaufen und sich mir nichts dir nichts als Laienantisemiten betätigen dürfen. Wer Antisemit sein will, muss dazu schon auf methodologisch saubere Art und Weise befugt sein, die Sache schon ernsthaft betreiben und es auch wirklich ernst meinen. Wer seine antisemitischen Wahnvorstellungen noch an einer Hand abzählen kann und all seine Besitztümer und das Leben seiner Liebsten nicht augenblicklich der Sache des Antisemitismus opfern würde, darf den Ehrentitel Antisemit nicht führen und muss sich erstmal richtig qualifizieren.
Wer seine antisemitischen Wahnvorstellungen noch an einer Hand abzählen kann und all seine Besitztümer und das Leben seiner Liebsten nicht augenblicklich der Sache des Antisemitismus opfern würde, darf den Ehrentitel Antisemit nicht führen und muss sich erstmal richtig qualifizieren.
Kurzum, wenn die Zeitungen über Umfragen zum Antisemitismus berichten, gilt dabei in der Regel nur als Antisemit, wer mindestens einem halben Dutzend antisemitischer Aussagen zugestimmt hat. Im Rahmen des ADL Global 100 Anti-Semitism Index, auf den Feldman sich positiv bezieht, müssen die Befragten beispielsweise bei einer Auswahl von elf antisemitischen Behauptungen mindestens sechs zustimmen. Zudem versuchen die Forscher oft auch die Intensität der jeweiligen Zustimmung zu erfassen. So gibt es bei einer einschlägigen deutschen Umfrage (ALLBUS 2006, 2012) sieben mögliche Stellungnahmen zu der Behauptung, die Juden übten weltweit zu viel Macht aus. Das nenne ich Genauigkeit!
Die Versuchung liegt nahe, die Schlussfolgerung umzukehren. Wie die Autoren einer 2017 veröffentlichten Broschüre der EKD, Antisemitismus: Vorurteile Ausgrenzungen Projektionen: Und was wir dagegen tun können, anmerkten, weisen „nur etwa elf Prozent der Deutschen … in Umfragen antisemitische Äußerungen vollständig zurück“ (S. 4). Jedenfalls führt diese Praxis dazu, dass Umfragen und Studien, bei denen die Befragten nicht der genügenden Anzahl antisemitischer Aussagen zugestimmt haben, leicht diskreditiert werden können. Ganz gleich, was man von dieser Konvention hält, müsste man sich aber darauf einigen können, dass man diesen Maßstab wenn, dann konsequent anwendet. Bei Feldman wird er aber, wie wir sehen werden, dann ins Feld geführt, wenn ein Befund ihm nicht passt, im umgekehrten Fall ist davon keine Rede.
Dies verweist obendrein auf einen weiteren wichtigen Punkt: In der wissenschaftlichen Sphäre tragen Sozialwissenschaftler ihre zutage geförderten Befunde in der Regel mit einer Vielzahl verschiedener Vorbehalte vor. Beispielsweise mag es Gründe geben anzunehmen, dass die Befragten nicht ehrlich antworteten, sondern gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden suchten. Nun besteht der Zweck einer Metastudie zugegebenermaßen nicht darin, die Aussagen der berücksichtigten Studien alle nochmals zu wiederholen, sondern sie zusammenzufassen. Dabei gehen viele der ursprünglichen Vorbehalte zwangsläufig verloren. Dennoch sollte auch hier gelten, dass die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung spezifischer Vorbehalte auf transparente und konsequente Weise erfolgt. Ob die jeweiligen Vorbehalte einem in den Kram passen oder nicht, halte ich nicht für ein legitimes Auswahlprinzip, scheint aber Feldmans Kriterium gewesen zu sein. Außerdem sollte man vielleicht darüber nachdenken, wie forsch man sein sollte, wenn man sich auf Daten beruft, die mit gravierenden Vorbehalten präsentiert wurden.
Mir ist schon klar, dass die Leser dieser Diskussion mich so oder so für ziemlich obsessiv halten werden. Dennoch habe ich, so schwer es sein mag, die zu glauben, tatsächlich Besseres zu tun, als jeder möglichen oder tatsächlichen Ungenauigkeit in Feldmans Bericht detailliert nachzugehen. Im folgenden begrenze ich mich daher auf eine Auswahl von sieben besonders instruktiven Beispielen. Sie beziehen sich überwiegend auf Deutschland.
Vergleichen sie bitte die folgenden beiden Passagen aus Feldmans Bericht:
Eine Studie in der größten ethnischen Gruppe, derjenigen mit türkischem Hintergrund, ergab, dass 49 % der Befragten eine positive Haltung gegenüber Juden ausdrückten, während 21 % eine negative Haltung zeigten und 30 % eine neutrale Antwort gaben (S. 23/24).
In Bezug auf Antisemitismus unter Flüchtlingen liegen uns Daten aus einigen wenigen Studien vor. Eine davon befasste sich ausschließlich mit Bayern und ergab, dass die Mehrheit (55 %) der Flüchtlinge aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan der Aussage zustimmen, dass Juden in der Welt zu viel Einfluss haben (S. 29/30).
Dem nackten Auge dürften zwei Unterschiede auffallen. Erstens befassen sich die jeweiligen Studien mit unterschiedlichen Gruppen. Von den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen, die bei der ersten Studie befragt wurden, waren 60 Prozent selbst nach Deutschland gekommen, lebten aber im Schnitt bereits seit 31 Jahren hier, die übrigen 40 Prozent waren bereits in Deutschland geboren worden.
Zweitens passt der erste Befund Feldman in den Kram, her zweite aber nicht. Also qualifiziert er den zweiten Befund wie folgt:
Wir sollten dabei jedoch berücksichtigen, dass, obwohl dies die Verbreitung eines bestimmten antisemitischen Gedankens belegt, es nicht die Kriterien erfüllt, die im Allgemeinen zur Identifizierung von „Antisemiten“ oder „Antisemitismus“ herangezogen werden (S. 30).
Zunächst fallen einem die Gänsefüßchen um „Antisemiten“ und „Antisemitismus“ auf. Etwas anderes ist aber wichtiger: Wieviele Fragen wurden wohl den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen in der ersten Studie gestellt, deren Befund Feldman so gut gefällt (hierauf komme ich nochmals zurück)? Sie haben es erraten. Auch dieser Befund beruht auf bloß einer Frage und noch dazu auf einer Art von Frage, die kein ernstzunehmender Forscher zur Erfassung des Antisemitismus (worum es bei der betreffenden Umfrage auch gar nicht ging) einsetzen würde. Doch wen schert’s, wenn einem der Befund in den Kram passt? Streng genommen könnte man sogar sagen, den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen in der ersten Studie sei nicht einmal eine ganze Frage gestellt worden, denn die betreffende Frage lautete: „Wie ist Ihre persönliche Haltung zu den Mitgliedern folgender Gruppen?“ Dabei ging es um vier Gruppen: „Menschen mit deutscher Herkunft“, Christen, Atheisten und Juden. Dass die Frage dadurch auf Juden als Angehörige einer anderen Religion fokussiert wurde, sollte uns nicht überraschen, der der Titel der betreffenden Studie lautet Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland.
Allerdings gibt es auch sonst noch einiges zu Feldmans Freude über die Haltung der türkischen Nichtflüchtlinge zu sagen:
Das Feldman im Umgang mit den Urteilen seiner eigenen Zuträger nicht gerade zimperlich war, sahen wir ja eben schon. Hierzu noch ein weiteres Beispiel: Auf Seite 29 (von 30) seiner Bestandsaufnahme kommt Feldman schließlich doch noch auf die Flüchtlinge aus mehrheitlich muslimischen Ländern zu sprechen, die in den letzten Jahren nach Westeuropa gekommen sind. In diesem Zusammenhang ist er besonders von einer Studie beeindruckt, die uns zwar über Einstellungen der Flüchtlinge Juden gegenüber nichts sagen kann, in der sich aber immerhin 96 Prozent der befragten Flüchtlinge leidenschaftlich zur Demokratie bekannten. Zugegeben, 21 Prozent wünschten sich zugleich eine „starke Führungspersönlichkeit … die sich nicht um Parlamente und Wahlen schert“, das ist aber offenbar bei der Gesamtbevölkerung auch nicht anders. „Diese Ergebnisse“, so Feldman, „unterstützen das anti-schwarzseherische Lager (S. 29).
Diese Formulierung findet sich, wenn auch in etwas qualifizierterer Form, auch in Bereks Bericht zur Lage in Deutschland: „[A]s a tendency“, so Berek, „these results support the camp of the anti-alarmists“ (S. 63). Allerdings hatte er dann umgehend hinzugefügt:
As a caveat, however, the answers may reflect the influence of social desirability. After all, how else would a refugee reply on leaving her integration class (where she learned how highly democracy, civil rights and equality are officially esteemed in the country that hosts her) when an academic researcher with a laptop questions her about precisely these values?
Davon ist bei Feldman allerdings keine Rede mehr.
Feldmans Behauptung, dass der Antisemitismus sich seit 2011 auf dem Rückzug befinde, beruht unter anderem auf den Fallzahlen Politisch Motivierte Kriminalität des Bundesinnenministeriums. In Deutschland, schreibt er,„erreichte die Zahl der antisemitischen Straftaten … im Jahr 2014 einen Höhepunkt, ungeachtet der drastischen Zunahme der Zahl an MENA-Migranten im folgenden Jahr“ (S. 22).
Dieser Zusammenfassung Feldmans liegt die folgende Passage in Bereks Bericht zugrunde (auf einige der von Berek in diesem Zusammenhang formulierten Vorbehalte komme ich gleich noch zurück):
Regarding antisemitic incidents recorded by the police, there is no sign of a rise in antisemitic criminal offences after the increased immigration in the second half of 2015. After a peak of 1,596 cases in 2014 …, in 2015 there were 1,366 cases, … a decrease to the level seen in 2013 (1,275 cases …). Anti-Israel offences developed along the same trend. In 2013 there were 41 cases …; in 2014, 575 cases …; in 2015 62 cases … The long-term trend even shows a slight decline in the still-high numbers, with the peaks coinciding with rising tensions in the Arab-Israeli conflict (p. 52).
Was auch immer man anhand der betreffenden Zahlen womöglich über längerfristige Trends folgern kann, so steht eines auf jeden Fall fest, dass sie nämlich widersprüchlich sind und die allzu einfachen Schlussfolgerungen, die Berek und in noch höherem Maße Feldman aus ihnen ziehen, kaum hergeben. Hierzu einige Beispiele:
Wesentlich schwerer wiegt allerdings die Tatsache, dass der im April 2018 veröffentlichte Bericht die bereits am 24.4.2017 offiziell bekanntgegebenen Fallzahlen Politisch Motivierte Kriminalität für 2016 nicht berücksichtig hat.
Tatsächlich haben wir es hier mit einem besorgniserregenden Teufelskreis zu tun. Die trügerischen Statistiken verleiten Wissenschaftler dazu, das Maß des rechten und rechtsextremen Antisemitismus zu übertreiben, was die Polizei wiederum in der Annahme bestätigt, die allermeisten erfassten antisemitischen Straftaten seien auch dann dem rechten Lager zuzuordnen, wenn es dafür gar keine konkreten Anhaltspunkte gibt.
Beispiel 1: Feldman äußert sich positiv über eine Stelle aus dem Bericht Antisemitismus in Deutschland, den der Unabhängige Expertenkreises Antisemitismus 2017 dem Bundestag vorlegte. Er schreibt:
Im Bericht Antisemitismus in Deutschland (2017), erstellt von einem vom Deutschen Bundestag beauftragten Fachgremium, wird darauf hingewiesen, dass wir bei der Beurteilung nicht nur das berücksichtigen sollten, was jemand sagt, sondern auch zu wem er es sagt, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht. Wir stimmen mit Antisemitismus in Deutschland dahingehend überein, dass wir in Bezug auf Kritik an Israel die Existenz einer „Grauzone“ anerkennen, die zu einer legitimen Uneinigkeit hinsichtlich dessen führt, was als antisemitisch zu betrachten ist und was nicht (S. 20).
Sieht man sich den betreffenden Abschnitt im Bericht des Unabhängigen Expertenkreises an, stellt sich heraus, dass dort entgegen Feldmans Behauptung gerade nicht auf die jeweilige Absicht abgehoben und im Übrigen die Beweislast recht eindeutig bei den Urhebern jeglicher Äußerung verortet wird, die als antisemitisch wahrgenommen werden könnte. Im Bericht heißt es dazu im einzelnen:
Der Fokus sollte in diesem Zusammenhang … weniger auf der Frage liegen, ob eine Äußerung antisemitisch gemeint war oder nicht — dies lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären. Stattdessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl als kritische Positionierung als auch als Antisemitismus verstanden werden können. Es kommt daher darauf an, wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstelltes jüdisches Kollektiv erfolgt oder ob im Sinne einer »Umwegkommunikation« Israel nur an die Stelle »der Juden« quasi als Legitimierung antisemitischer Einstellungen tritt.
Es lässt sich festhalten, dass der Eintritt in den Diskursverlauf zur Kritik an der Politik Israels immer mit der
Problematik verbunden ist, dass Äußerungen zumindest ambivalent verstanden werden können, in jedem Fall
aber israelbezogene Äußerungen dann als antisemitisch zu bezeichnen sind, wenn bekannte Stereotype benutzt
oder aber Morde an Juden gerechtfertigt werden (S. 27/28).
Das dürfte es wohl kaum gewesen sein, was Feldman vorschwebte, als er sich mühsam das Zugeständnis abrang, es gebe „Situationen …, in denen Kritik an Israel und/oder am zionistischen Gedanken auch eine Gelegenheit für antisemitische Äußerungen und antisemitisches Verhalten bietet“ (S. 20). Diese Formulierung ist auch insofern großartig, als aus ihr wieder einmal deutlich wird, dass für Feldman das Problem nicht darin besteht, dass Menschen diese „Gelegenheit“ nutzen, sondern darin, dass diese sich „bietet“. Subjekt ist bei ihm nie der Antisemit (es sei denn, er wäre Rechtsextremist), sondern stets der Antisemitismus, der sich noch des wohlwollendsten Israelkritikers bemächtigen und ihn zu seinem Spielzeug machen kann (siehe hierzu auch https://ist-der-ruf-erst-ruiniert.blog/2020/05/31/ich-wars-nicht-es-war-das-reservoir/).
Subjekt ist bei Feldman nie der Antisemit (es sei denn, er wäre Rechtsextremist), sondern stets der Antisemitismus, der sich noch des wohlwollendsten Israelkritikers bemächtigen und ihn zu seinem Spielzeug machen kann.
Beispiel 2: Wie eingangs bereits erwähnt, verweist Feldman auch auf Jikelis Studie von 2017. Besonders gut gefällt ihm Jikelis Befund, das von den befragten Flüchtlingen (in Feldmans Paraphrase) „[v]iele, jedoch nicht alle … betonten …, dass es etwas anderes sei, über Juden zu sprechen als über Israel“ (S. 30).
Hierzu einige relevante Zitate aus Jikelis Studies:
Viele Interviewte betonen, dass sie zwischen Juden und Israel trennen. Dies gelingt aber gerade bei einer starken Abneigung gegen Israel nur punktuell. Andere wiederum sehen explizit keinen Unterschied zwischen Israel und „den Juden“ (S. 9).
Hinzu kommt, dass die Vorstellungen der Befragten von Jüdinnen und Juden einerseits und Israel beziehungsweise Israelis andererseits häufig ineinander übergehen, auch bei denen, die eingangs betonen, dass es einen großen Unterschied zwischen Juden und Israelis gibt (S. 23).
Die oft gemachte, explizite Trennung von Israelis einerseits und Juden andererseits dient meist dazu, sich vom Antisemitismus abzugrenzen, gleichzeitig aber die negative Einstellung gegenüber Israel zu legitimieren (S. 28).
Jikeli stellt außerdem klar, dass die von ihm Interviewten, wenn sie die „Besatzung Palästinas“ beklagten, damit „allerdings nicht die Besatzung des Westjordanlandes, sondern die Staatsgründung Israels“ meinten. Trotz der prominenten Rolle, die der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern für die befragten Flüchtlinge spielte, war der traditionelle Antisemitismus bei ihnen allerdings prononcierter als der israelbezogene. Mit Feldmans Schlussfolgerungen ist all das völlig inkompatibel.
Dass Feldman es auch mit der Aneignung von Interpretationen nicht allzu genau nimmt, mag das folgende Beispiel illustrieren. Angesichts der heldenhaften Rolle, die Feldman bei der Verteidigung ganz und gar unschuldiger und legitimer Israelkritik gegen die bösartige Beschuldigung des Antisemitismus spielt, mag man sich zunächst wundern, dass er sich im Rahmen seiner anfänglichen Übersicht ausgerechnet auf einen Bericht des israelischen Diaspora-Ministeriums beruft. Dieser Bericht ist sogar sein einziger Beleg dafür, dass es trotz all der Unkenrufe auch noch nichtschwarzseherische Realisten gibt. In dem Report on Antisemitism in 2016 steht nämlich, dass “the wave of immigrants from Muslim countries is not causing an increase in antisemitism” (p. 10).
Er mag dies für einen besonders schlauen Schachzug gehalten haben, steht am Ende aber nur als Schlaumeier da. Denn es handelt sich hier ja nicht um eine spezifische Schlussfolgerung, die auf einem konkreten Datensatz beruht, sondern um eine allgemeine Einschätzung, ein allgemeines Urteil. Somit stellt sich die Frage, warum diese Einschätzung verlässlicher oder weniger verlässlich sein sollte als, zum Beispiel, die Sorge, die in dem selben Bericht mit Blick auf den Antisemitismus in der britischen Linken zum Ausdruck kommt, und die explizite Kritik, die darin an dem Versuch geübt wird, das Ausmaß des Antisemitismus in der Labour Party mit Hilfe des Chakrabarti-Berichts zu vertuschen, an dem Feldman aktiv mitwirkte und dessen Veröffentlichung er ausdrücklich begrüßte? Dass linker Antisemitismus bei Feldman gar nicht existiert, sahen wir ja schon.
Feldman hätte natürlich auch genauer hingucken können, um zu ermitteln, auf welcher Datengrundlage diese Einschätzung eigentlich basierte. Im Bericht des Diaspora-Ministeriums heißt es zum Beispiel, dass „Federal German government figures indicate that between January and September 2016, 461 anti-Semitic incidents were reported in Germany“ (S. 36). Wer weiß, was da schief gelaufen ist. Jedenfalls wurden für 2016 schließlich insgesamt 1468 antisemitische Straftaten offiziell erfasst. (Besonders lustig ist dabei, dass Feldman also Zugang zu einer Quelle hatte, in der bereits vorläufige Angaben zur Zahl der für 2016 erfassten antisemitischen Straftaten in Deutschland standen, die zwar falsch waren, gerade darum aber seiner Argumentation durchaus genützt hätten, wäre es ihm wirklich um die Zahlen gegangen. So entgehen einem beim Rosinenpicken mitunter eben auch Angaben, die man gut hätte gebrauchen können.)
Schließlich verweist die Tatsache, dass der Bericht des Diaspora-Ministeriums sich ausdrücklich auf „the wave of immigrants“ (Betonung hinzugefügt) bezieht, darauf, dass die von Feldman zitierte Einschätzung sich nicht auf alle Formen der Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern seit dem zweiten Weltkrieg, sondern dezidiert auf die unmittelbar vorangegangene Ankunft der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak bezog.
Feldman begnügt sich nicht damit, uns von vornherein einzubläuen, dass wir uns nur dem Antisemitismus der Rechten widmen und alle anderen Formen des Antisemitismus gar nicht beachten sollten. Sollten wir noch immer nicht überzeugt sein, hält er noch ein Totschlagargument für uns parat. Zugegeben, bei den Migranten und Flüchtlingen aus mehrheitlich muslimischen Ländern mag der Antisemitismus weit verbreitet sein, doch sind sie viel zu sehr damit beschäftigt, in ihren neuen Ländern Fuß zu fassen, um ihren Antisemitismus in die Praxis umzusetzen:
Die Daten aus allen fünf Ländern deuten stark darauf hin, dass der Alltag der aktuellen Flüchtlinge und Migranten von Unsicherheit begleitet ist. Ihre Prioritäten liegen darin, einen Ort zum Schlafen zu finden, Papiere zu erhalten und die Sprache ihres neuen Aufenthaltslandes zu lernen, um bezahlte Arbeit zu finden. Kurz gefasst: Ihr Alltag ist eher von den Erfordernissen ihrer schwierigen Situation geprägt als von der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien (S. 29).
Jikeli entwickelt ein ähnliches Argument, begreift aber diesen Sachverhalt als Gelegenheit, dafür zu sorgen dass der anfängliche Integrationsprozess mit einer selbstkritischen Überprüfung etwaiger eigener antisemitischer Überzeugungen einhergeht. Für Feldman ergibt sich daraus lediglich, dass wir uns um den Antisemitismus unter den Flüchtlingen, den auch er nicht leugnen kann, keine Sorgen zu machen brauchen. (Selbst wenn es Bestand hätte, würde dieses Argument uns mit dem Antisemitismus unter anderen Migranten natürlich ohnehin nicht helfen.) Soweit, so gut. Doch kurz zuvor hat Feldman uns darauf hingewiesen, „dass ein Großteil antisemitischen Verhaltens von ‚antisozialer‘ und ‚opportunistischer‘ Natur ist, ohne eine klare ideologische oder religiöse Motivation“ (S. 25). Demnach bedürfte es also gar nicht „der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien“, zu der die Flüchtlinge aus Zeitmangel nicht fähig sein sollen.
Doch kurz zuvor hat Feldman uns darauf hingewiesen, „dass ein Großteil antisemitischen Verhaltens von ‚antisozialer‘ und ‚opportunistischer‘ Natur ist, ohne eine klare ideologische oder religiöse Motivation“ (S. 25). Demnach bedürfte es also gar nicht „der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien“, zu der die Flüchtlinge aus Zeitmangel nicht fähig sein sollen.
Im Übrigen bin ich mir nicht sicher, ob Feldman den Flüchtlingen und anderen vor Kurzem erst eingewanderten Migranten mit seiner Argumentation wirklich einen allzu großen Gefallen tut. Immerhin wäre ein unsinnige aber durchaus logische Konsequenz seiner Argumentation ja die, dass man dafür sorgen sollte, dass die Lebensumstände der Flüchtlinge und Migranten dauerhaft so prekär wie möglich bleiben, damit sie auch weiterhin zu beschäftigt sind, um ihren Antisemitismus in die Praxis umzusetzen. Andererseits wissen wir aber auch, dass zunehmende Integration allein das Problem nicht automatisch aus der Welt schafft. In der Regel wächst die Unzufriedenheit der Kinder und Enkel der ursprünglichen Migranten mit ihrer noch nicht vollständigen Integration proportional zur Zunahme ihrer tatsächlichen Integration, und die Kinder und Enkel von Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern sind in vielen Fällen nicht weniger antisemitisch, sondern antisemitischer als ihre Eltern oder Großeltern bzw. ihr Antisemitismus ist ideologisch gefestigter als der ihrer Vorfahren. Ich vermute, dass all dies bei Feldman gar nicht erst vorkommt, weil er Integration für eine gefährliche, bestenfalls zweischneidige Sache hält. Doch darauf kann ich hier nicht auch noch eingehen.
In dem Bestreben, den Antisemitismus unter Muslimen mit Migrationshintergrund in erster Linie mit deren Ausgrenzung zu erklären, hat Feldman noch einen weiteren Vorbehalt Bereks fallen lassen:
It would be questionable indeed to attribute antisemitism only to the circumstances instead of taking people seriously as acting and responsible individuals who make decisions. Otherwise one would be unable to explain why many Muslims with discrimination experience do not entertain antisemitic thoughts (p. 60).
*
Wurden die Schlagzeilen erst gedruckt — „No link between Muslim immigration and anti-Semitism, German study says”, „On ne peut faire aucun lien entre l’antisémitisme et l’arrivée des nouveaux migrants”, „‘Antisemitismus ist kein allgemeines Merkmal von Muslimen’: Hat die Judenfeindlichkeit in Europa durch die Zuwanderung zugenommen? Einer Studie zufolge lässt sich diese verbreitete These nicht bestätigen” usw.— kommt es auf all diese Dinge natürlich nicht mehr an. Doch während in der Öffentlichkeitsarbeit und Politik alle Mittel recht sein mögen, sollte es in der Wissenschaft nicht so sein. Allerdings hat sich mir in den letzten zwei Jahrzehnten kaum etwas so deutlich eingeprägt wie die Tatsache, dass Wissenschaftler sich so ziemlich alles erlauben können — außer darauf hinzuweisen, was andere Wissenschaftler sich alles erlauben.
Nachdichtung des traditionellen Volksliedes „Palästinenser können nicht antisemitisch sein, weil sie selbst Semiten sind“, zuletzt wieder von Daniel Barenboim in der FAZ vorgetragen.