Ich war’s nicht, es war das Reservoir

Paul Klee, Vulgäre Komödie, 1922, Lithographie, 21.5 x 27.3 cm

Das Pears Institute for the Study of Antisemitism versucht es mit Satire: Zum Artikel „Labour and Antisemitism: A Crisis Misunderstood“ von Ben Gidley, Brendan McGeever und David Feldman

Die Kollegen des Pears Institute for the Study of Antisemitism lassen sich mit diesem Text nicht zum ersten Mal zur Frage des Antisemitismus vernehmen, der seit einigen Jahren in der britischen Labour Party fröhliche Urständ feiert. Als die Labour Party 2016 eine interne Untersuchung anordnete, ließ Institutsdirektor David Feldman sich als Stellvertreter der mit der Untersuchung betrauten Anwältin und Labourfunktionärin Shami Chakrabarti installieren und begrüßte ausdrücklich den von der bald darauf auf Corbyns Geheiß zur Baronin ernannten und ins House of Lords entsandten Chakrabarti vorgestellten, von den meisten Beobachtern als Vertuschungsversuch abgetanen Bericht. Als es im Sommer 2018 infolge der anfänglichen Weigerung der Labour Party, sich die Antisemitismusdefinition der IHRA vollständig zu eigen zu machen, zu wochenlangen schweren Auseinandersetzungen kam, in deren Ergebnis die Partei aus opportunistischen Gründen notgedrungen doch noch nachgab, fiel Feldman und Brendan McGeever nichts besseres ein, als in Haaretz einen langen Artikel zu veröffentlichen, in dem sie ausführlich erklärten, wie unnütz die Definition der IHRA sei. Nun nehmen sie das Ende von Corbyns Amtszeit an der Spitze der Labour Party zum Anlass, um uns allen mit einem Text, der eigentlich nur satirisch gemeint sein kann, zu erklären, was es mit dem Antisemitismus in der Labour Party ‚wirklich‘ auf sich hat.

Die bisherige, dringend korrekturbedürftige Fehleinschätzung der ganzen Situation, so die bahnbrechende Erkenntnis Gidleys, McGeevers und Feldmans, rühre daher, dass die Kritiker bislang nach Antisemiten Ausschau gehalten haben, wo es viel wichtiger gewesen wäre, dem Antisemitismus Paroli zu bieten. Nun könnte man das als Uneingeweihte vielleicht so verstehen, dass es zunächst einmal wichtiger sei, antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit ebenso wie andere antisemitische Handlungen so weit als möglich zu unterbinden, als sich auf die zeitaufwändige und selten befriedigend zu beantwortenden Frage zu versteifen, was wohl im Einzelnen in den Herzen und Hirnen der Antisemiten vor sich gehen mag.

Das entspräche der grundlegenden, ebenso zutreffenden wie frustrierenden Einsicht, dass antisemitische Stereotypien in westlichen (wie übrigens auch in mehrheitlich muslimischen) Gesellschaften so tief verankert sind, dass sie sich, jedenfalls solange die gegenwärtige Gesellschaftsordnung fortbesteht, kaum werden beseitigen lassen. Daher muss man aus pragmatischen Gründen zwischen antisemitischen Haltungen einerseits und antisemitischen Verhaltensweisen andererseits unterscheiden. Tatsächlich ist die Vermischung dieser beiden Dimensionen einer der Hauptgründe dafür, dass die allermeisten zurzeit verfolgten Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus ins Leere laufen. Pragmatisch gesehen ist der Kampf gegen die Auswirkungen antisemitischer Einstellungen ungleich wichtiger als jener gegen die Einstellungen selbst. Selbstverständlich wäre es großartig, in einer Gesellschaft leben zu können, in der niemand versteht, wie antisemitische Stereotypien je entstehen konnten, da sie niemandem einleuchten oder die Interpretation ihrer Stellung in der Welt auch nur scheinbar erleichtern. In der Wirklichkeit müssen wir unterdessen aber leider zuallererst versuchen, die Auswirkungen antisemitischer Einstellungen weitestgehend zu begrenzen. In aller Regel sind westliche Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg ganz gut damit gefahren, dass sie der Bevölkerung gestatten, von Juden zu halten, was immer sie will, vorausgesetzt, die Menschen behalten ihre antisemitischen Einstellungen und Regungen für sich. Ein Großteil der gegenwärtigen auf den Antisemitismus bezüglichen Kontroversen spiegelt die Tatsache wider, dass dieses Tabu inzwischen immer mehr bröckelt.

Die Unterscheidung zwischen Antisemiten und Antisemitismus: Die Antisemitismusdefinition der IHRA

Angesichts dieser Entwicklung unternimmt die Antisemitismusdefinition der IHRA (womit immer die Definition einschließlich der beigegebenen Beispiele gemeint ist) genau das, was Gidley, McGeever und Feldman zu fordern scheinen. Die Definition orientiert sich im Wesentlichen am Modell der juristischen Kodifizierung und legt exemplarisch dar, welche Verhaltensweisen antisemitisch und daher inakzeptabel sind. Sie behauptet weder, alles abzudecken, was sich zum Thema Antisemitismus sagen ließe, noch gibt sie vor, erklären zu können, wo der Antisemitismus herkommt, wann, wo, warum und bei wem er verfängt, wie man das historische und gesellschaftliche Saatbeet, aus dem er sich nährt, ein für allemal beseitigen könnte, oder was die Individuen, die sich antisemitisch äußern oder verhalten, dabei im Einzelnen denken und fühlen. Ganz gleich wie komplex ihre Motivation, wie reich oder verarmt ihr Innenleben sein mag: sie sind für ihre Äußerungen und Handlungen verantwortlich, und wenn diese antisemitisch sind, müssen sie damit rechnen, dass sie den gesellschaftlich für diesen Fall vorgesehen Sanktionen unterliegen.

Folglich verhält es sich mit dieser Definition nicht anders als mit anderen juristischen Kodifizierungen untersagter Verhaltensweisen auch. Rechtlicher Normen bedarf es ja in der Regel nur, weil man sich bei einer nennenswerten Anzahl Einzelner nicht darauf verlassen kann, dass sie sich den entsprechenden Normen (etwa, dass man nicht töten oder nicht vergewaltigen soll) ohne Strafandrohung fügen würden. Allerdings überzeugt weder die Strafandrohung noch die tatsächliche Strafe die potenziellen oder tatsächlichen Täter in der Regel von der Richtigkeit der betreffenden Normen. Zudem unterbinden Verbote die betreffenden Verhaltensweisen nie in Gänze und sie ändern schon gar nichts an deren materiellen Ursachen und den gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren, die sie hervorbringen oder ohne Absicht begünstigen. Verbote müssen notwendigerweise spezifisch formuliert sein und können der tatsächlichen Komplexität der Phänomene, gegen die sich richten, daher nicht vollumfänglich gerecht werden. In manchen Fällen bleiben Gesetze selbst dann bestehen, wenn sie gar nicht mehr zur Anwendung kommen, weil die Gesetzgeber es für wichtig halten, ein moralisches Signal zu senden (oder nicht zurückzunehmen bzw. zu untergraben). Gelegentlich werden Angeklagte zu unrecht beschuldigt, und wir wissen, dass es durchaus zu Justizirrtümern kommen kann. Ich könnte noch ein Weile so fortfahren.

Und dennoch würden nur wenige angesichts dieser vielen Mängel folgern, das Verbieten des Tötens oder Vergewaltigens sei ganz sinnlos, da es über seinen unmittelbaren Zweck hinaus all diese zusätzlichen Funktionen nicht erfülle, geschweige denn, man sollte überhaupt gleich alle Gesetze abschaffen—doch wenn es darum geht, die Antisemitismusdefinition der IHRA zu desavouieren, soll aus der Tatsache, dass sie tatsächlich nur das leistet, was sie leisten soll, regelmäßig gefolgert, dass sie bestenfalls sinnlos sei und vermutlich niederen Beweggründen dienen solle. Feldman und seine Kollegen haben sich an dieser Kritik von Anfang an lautstark beteiligt. Wie eingangs erwähnt, nutzten Feldman und McGeever 2018 etwa den sommerlangen Streit um den Versuch der Labour Party, Teile der Definition über Bord zu werfen, um ihre grundlegende Kritik an ihr einem breiteren Publikum vorzustellen.

Auswirkungen oder „Ergebnisse“: Struktureller Antisemitismus

Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht under anderem, dass die Definition der IHRA Formen des „institutionellen Antisemitismus“ nicht berücksichtige, wodurch auch eine Orientierung auf „Ergebnisse“ (outcomes) verunmöglicht werde. Nun könnte man vielleicht vermuten, bei den „Ergebnissen“ des Antisemitismus handele es sich um dessen Auswirkungen in der Form antisemitischer Aussagen in der Öffentlichkeit und anderer antisemitischer Handlungen. Wenn es der Definition der IHRA aber um genau diese Auswirkungen geht, sie den Blick auf „Ergebnisse“ Feldman und McGeever zufolge jedoch verstellt, muss es bei den „Ergebnissen“ wohl oder übel um etwas anderes gehen. Wenden wir uns einem Vortrag zum Thema „Anti-Zionism and Antisemitism in Britain“ zu, den Feldman 2013 im Jüdischen Museum Berlin, einer weltweit für ihre Unterscheidungsfähigkeit in diesen Dingen renommierten Institution, hielt, so erfahren wir zwar wieder nichts über „Ergebnisse“ (obwohl er auch dort betonte, man solle sich „nicht auf die Überlegungen des Täters, sondern auf Ergebnisse“ konzentrieren), immerhin aber darüber, was Feldman unter institutionellem Antisemitismus versteht. Dass er sich dabei ausgerechnet auf Aussagen von David Hirsh berief, dürfte an Komik kaum zu überbieten sein. Hirsh, so Feldman, habe die Sache mit Blick auf die prominente Rolle der BDS-Bewegung in der britischen Gewerkschaft der Universitätsdozenten so definiert: „Niemand in der Gewerkschaft hasst Juden; es geht nicht um diese Art von Antisemitismus. Institutioneller Antisemitismus … schafft ein für Juden feindseliges Klima innerhalb der Gewerkschaft, selbst wenn niemand die Absicht hat, ein derartiges Klima zu schaffen.“ Wer das glaubt, glaubt allerdings auch sonst alles!

Ich muss gestehen, dass mir diese Definition des Begriffs (das gleiche gilt für den Begriff institutioneller Rassismus, der ihm Pate stand) bei dieser Gelegenheit erstmals explizit untergekommen ist (was natürlich nicht ausschließt, dass es das war, was Leute in Gesprächen mit mir meinten, und ich sie missverstanden habe). Jedenfalls habe ich selbst ihn nie in diesem Sinne verwandt und würde das auch nie tun. Nun mag es ja durchaus sein, dass dies die (im wissenschaftliche Sinne) ‚korrekte‘ Definition ist, und auf Begriffe soll man, wie Feldman und seine Kollegen gerne betonen, achten. Allerdings sollte man aber auch deren weitläufigen Gebrauch berücksichtigen. Feldman und seine Kollegen möglich also völlig im Recht sein, wenn sie Nichtsoziologen und andere Sterbliche dafür tadeln, dass sie den Begriff nicht auf korrekte Weise verwenden. Wenn sie arg viel Zeit übrig haben und ihnen sonst nichts Besseres einfällt, können sie auch gerne ein Kampagne starten, um der Öffentlichkeit den korrekten Gebrauch des Begriffs beizubiegen.

Was ich aber keinen Augenblick glaube, ist, dass Menschen den Begriff im Allgemeinen so verwenden, als ginge es dabei um die völlig unbeabsichtigte Reproduktion des Rassismus oder des Antisemitismus. Im Falle des Antisemitismus springt beispielsweise ins Auge, dass diejenigen, die in den letzten Jahren (im Gegensatz zu Feldman und seinen Kollegen) den Antisemitismus in der Labour Party standhaft zu bekämpfen versucht haben, das Augenmerk stets auf die Bösgläubigkeit der Urheber antisemitischer Äußerungen und Taten und auf den strukturellen Antisemitismus der Partei insgesamt gelenkt haben. So ungenau oder falsch diese Bezeichnung aus der Sicht von Berufssoziologen auch sein mag, so klar ist doch auch, dass der Begriff hier vor allem eingesetzt wurde, um eine institutionelle Kultur zu benennen, die einzelnen Missetätern nichts entgegenzusetzen zu vermag, weil sie deren Missetaten klamm- oder auch gar nicht so heimlich billigt.

So haben Aktivisten Corbyn und seine Anhänger immer wieder verspottet. Sei ihnen der Antisemitismus wirklich for fremd und zuwider, wie sie behaupteten, müssten sie wohl die glücklosesten Antiantisemiten aller Zeiten sein, da sie doch ohne Unterlass immer das Falsche sagen und sich mit Figuren und Organisationen verbünden bzw. diese verteidigen würden, deren Verhalten zweifelsfrei antisemitisch sei. Dass es irgendwo tatsächlich haufenweise ernsthafte nichtantisemitische Menschen gibt, die, wenn sie die Labour Party institutionell antisemitisch nennen, vor allem darauf abzielen, dass Corbyn und seine Anhänger für den in der Partei amoklaufenden Antisemitismus nichts können, kann ich zwar nicht völlig ausschließen, halte es aber doch für hochgradig unwahrscheinlich.

Letztlich geht es bei alledem natürlich um die Frage der persönlichen Verantwortlichkeit. Trotz der weitgehenden Verheeerungen, die wir dem postmodernen/postkolonialen Bestreben, der Aufklärung den Garaus zu machen und ihren Anspruch durch simplistische und undialektische Erklärungsansätze zu ersetzen, uns bereits beschert hat, möchte ich weiterhin voraussetzen dürfen, dass ernstzunehmende Wissenschaftler auch weiterhin akzeptieren würden, dass menschliches Verhalten das Ergebnis eines komplexen Vorgangs ist, in dem strukturelle Faktoren, gesellschaftliche Prozesse und individuelle Entscheidungen zusammenkommen. Gewiss, darüber, welche Rolle diese Dimensionen im jeweiligen konkreten Fall genau spielen mögen, ist gut streiten. Dass man den betreffenden Vorgang aber ebenso gut sollte beschreiben können, ohne alle drei Dimensionen zu berücksichtigen, ist doch wohl kaum glaubwürdig. Da mich persönlich zuallererst Adornos Beharren darauf, dass Auschwitz der Menschheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgenötigt habe, antreibt, widerstrebt mir instinktiv jeder Erklärungsansatz, der davon ausgeht, persönliche Entscheidungen fielen im Vergleich zu strukturelle Faktoren kaum oder gar nicht ins Gewicht. Selbst wenn man alle Umstände, alle Faktoren, die Menschen für das Falsche anfällig machen, alle tatsächlichen und imaginierten Dimensionen des Gruppenzwangs usw. in Rechnung stellt, treffen Menschen Entscheidungen und müssen für diese die Verantwortung übernehmen. Im Übrigen haftet allen übermäßig strukturalistischen Ansätzen unweigerlich das Problem an, dass sie nicht erklären können, warum Einzelne, die den gleichen Strukturen und Umständen ausgesetzt sind wie jene, die sich anpassen, sich selbst dann nicht anpassen, wenn ihnen üble Konsequenzen drohen.

Mir sind auch keine ernstzunehmenden Wissenschaftler bekannt, die davon ausgehen, dass jede Antisemitin sich einst, als sie noch keine Antisemitin war, längere Zeit in ihr Zimmer setzte, nach ausgedehntem Nachdenken zu dem Schluss kam, sie würde gerne Antisemitin werden, und sich dann in zäher Kleinarbeit ihren ureigenen Antisemitismus erarbeitete. Wer bestreitet denn, dass es zwischen den jeweiligen konkreten Ausdrucksformen des Antisemitismus und einem über Jahrtausende entstandenen Grundstock an antisemitischen Stereotypien ein dialektisches Verhältnis gibt? Bei jeder Ausdrucksform des Antisemitismus lässt sich eine Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, des Generischen und des Spezifischen feststellen. Doch auch hier bleibt die Frage bestehen, warum sich angesichts gleicher Umstände manche für einen antisemitischen Erklärungsansatz entscheiden, andere aber nicht. Unter Leuten, die sich schon etwas länger in der Linken tummeln, ist dies als das Problem des notwendig falschen Bewusstseins bekannt. Der Fortbestand der bestehenden Gesellschaftsordnung hängt davon ab, dass die meisten von uns uns einbilden, sie beruhe auf anderen Prinzipien als jenen, die ihr tatsächlich zugrundeliegen. Doch weist die Tatsache, dass man diesen Sachverhalt durchschauen kann, ja bereits darauf hin, dass der organisierte Wahn nicht unentrinnbar ist. Warum manche das begreifen und andere nicht, gehört zu jenen ewigen Mysterien, die bislang, wenn wir ganz ehrlich sind, bislang noch nie jemand auf wirklich befriedigende hat erklären können.

Berücksichtigt man all dies, so ist das Bestreben von Gidley, McGeever und Feldman, unsere Aufmerksamkeit von den Antisemiten auf den Antisemitismus und vom Antisemitismus der Labour Party auf den Antisemitism als „eine der britischen Kultur innewohnende Ressource unter vielen“ umzulenken, zum einen alter Hut, wie er älter nicht sein könnte, zum anderen ist ihr durch nichts abgemilderter, vollkommen undialektischer Strukturalismus so albern, dass er nun wirklich nicht ernstgemeint sein kann. Es muss sich bei ihren Ausführungen also um Satire handeln. Ausdruck verleiht diese Satire dabei dem abwegigen Bestreben, diese „Ressource“ zum aktiven Subjekt des Antisemitismus zu machen und diejenigen, die sich antisemitisch betätigen, zu ihrem fremdbestimmten Werkzeug.

Sie denken jetzt natürlich alle, dass ich maßlos übertreibe. Doch schreiben Gidley, McGeever und Feldman beispielsweise, „manche Reaktionen auf die Krise des globalen Kapitalismus“ fungierten als „eine Bresche, durch die das Reservoir des Antisemitismus fließen kann“. Man wäre vielleicht geneigt anzunehmen, es sei der Inhalt des Reservoirs und nicht das Reservoir selbst, das da „fließt“, doch ist so oder so klar, dass hier das Reservoir den aktiven Part spielt. Das ist natürlich die Art von Ressource, die wir uns alle wünschen würden: man muss sich ihrer nicht bewusst sein, man muss sie nicht aufsuchen, man muss sich ihrer nicht aktiv bedienen, sie „fließt“ einfach, wenn sie gebraucht wird. Diejenigen, die sich ihrer bedienen, haben mit dem ganzen Vorgang gar nichts zu tun, sind bloß intentionslos ausführendes Organ. (Ich höre schon das Gegenargument: „Ja gut, geschrieben haben wir das schon, gemeint aber nicht.“) In ähnlicher Weise waren Gidley, McGeever und Feldman wohl die intentionslos ausführenden Organe, durch die das Reservoir der Satire eigenständig floß, als sie diesen Text verzapften.

Die Kunst des Rosinenpickens

Satire reißt ja oft einige wenige Tatsachen aus ihrem Zusammenhang und entfremdet sie, um so die Wirklichkeit in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Sofern man es dabei mit der Wirklichkeit nicht allzu genau nimmt, fällt der ornamentale Einsatz von Statistiken durch Gidley, McGeever und Feldman genau in diese Kategorie. Betrachten wir zur Veranschaulichung die folgende Passage in ihrem Text:

Fragen wir nun, wo diese negativen Einstellungen am ehesten auftreten, können wir uns Umfragen zuwenden, die YouGov 2017 und 2019 durchführte. … Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass es ebenso wahrscheinlich ist, dass Anhänger der Labour Party antisemitischen Aussagen zustimmen wie Wähler der Konservativen. Ja, bei der Umfrage von 2017 stimmten Konservative Wähler antisemitischen Ansichten eher zu. Die Umfrage von 2019 ergab ein gemischteres Bild, zum Teil, weil der Fragenkatalog erweitert wurde. Doch auch in jenem Jahr stimmten fünfzehn Prozent der befragten Wähler der Konservativen aber nur elf Prozent der Labourwähler der Aussage zu, Juden mit einer Verbindung zu Israel seien Großbritannien gegenüber weniger loyal als andere Briten. Andererseits stimmten sechzehn Prozent der Labourwähler, doch nur vierzehn Prozent der Wähler der Konservativen der Aussage zu, dass „Juden im Vergleich zu anderen Gruppen in den Medien zu viel Macht ausüben“. Das Gesamtbild ist jedenfalls klar. Unter den Anhängern beider Parteien stimmt eine nennenswerte Minderheit politischen Stereotypen und Vorurteilen zu.

Wo will man da anfangen?

  • Ich beginne mit der Aussage: Die Umfrage von 2019 ergab ein gemischteres Bild, zum Teil, weil der Fragenkatalog erweitert wurde. Diese Erweiterung fügte der Umfrage einen neuen Abschnitt hinzu, bei dem es darum ging, israelbezogenen Antisemitismus (so, wie er von der Definition der IHRA beschrieben wird) zu ermitteln, jene Form des Antisemitismus also, von der man annehmen kann, dass sie unter Labouranhängern (und Linken im Allgemeinen) besonders weit verbreitet ist. Vermutlich, weil sie die Definition der IHRA ablehnen und sich gerne darum sorgen, legitime Kritik an Israel könnte allzu bereitwillig als israelbezogener Antisemitismus fehldiagnostiziert werden, gehen Gidley, McGeever und Feldman auf diesen Teil der Umfrage gar nicht erst ein. Es kommt wohl kaum als allzu große Überraschung, dass die Wähler der Konservativen traditionellen antisemitischen Aussagen, die Labouranhänger dagegen Aussagen des israelbezogenen Antisemitismus häufiger zu stimmen.
  • Allerdings haben wir es keineswegs mit einer einfachen Äquivalenz zu tun. Dass der Anteil der Labouranhänger, die Aussagen des israelbezogenen Antisemitismus zustimmten, um 41,3 Prozent höher war als jener der zustimmenden Toryanhänger überrascht kaum. Hinzu kommt aber, dass der Anteil der Labouranhänger, die derartige Aussagen ablehnten, um 42,1 Prozent geringer war als der der entsprechenden Torywähler (was sich insofern keineswegs, wie man zunächst denken könnte, von selbst versteht, als sehr viele Labourwähler, wie wir noch sehen werden, die entsprechenden Fragen mit „weiß nicht“ beantworteten). Umgekehrt stimmten Wähler der Konservativen traditionellen antisemitischen Aussagen zwar um 32,8 Prozent häufiger zu als Labourwähler, doch zugleich lehnten die Labouranhänger diese Aussagen im Schnitt seltener ab als die Toryanhänger (wenn auch nur um marginale 1,3 Prozent seltener). Insgesamt war der Anteil der Labourwähler, der Aussagen des israelbezogenen Antisemitismus befürwortete, um 46.8 Prozent höher als der Anteil der Torywähler, der traditionellen antisemitischen Aussagen zustimmte, doch die Labouranhänger lehnten den traditionellen Antisemitismus (wenn auch nur in geringfügigem Maße) seltener ab als die Toryanhänger.
  • Da die Frage des Antisemitismus eine heikle ist, überrascht es kaum, dass durchgängig relativ oft mit „weiß nicht“ geantwortet wurde. Es fällt aber auf, dass die Zahl der „weiß nicht“-Antworten bei den auf israelbezogenen Antisemitismus zielenden Fragen um 43,2 Prozent höher war als bei denen, die sich auf den traditionellen Antisemitismus bezogen. Zudem antworteten die Labouranhänger unter den Befragten in beiden Abschnitten um 23 Prozent häufiger als die Wähler der Konservativen mit „weiß nicht“. Dies legt die Vermutung nahe, dass etliche Labourwähler sich scheuten, vermeintlich ‚unerwünschte‘ Antworten zu geben.
  • Die bislang zitierten Zahlen beziehen sich alle auf jene, die antisemitischen Aussagen „nachdrücklich“ oder „teilweise“ zustimmten einerseits, und auf jene, die diese „nachdrücklich“ oder „teilweise“ ablehnten, andererseits. Interessant ist dabei aber folgendes: Nur 34,2 Prozent der Toryanhänger und 22,8 Prozent der Labouranhänger lehnten den israelbezogenen Antisemitismus „nachdrücklich“ ab. Umgekehrt, lehnten 33,8 Prozent der Labouranhänger und 27 Prozent der Anhänger der Konservativen den traditionellen Antisemitismus „nachdrücklich“ ab. Während also der Anteil derer, die die ihnen jeweils weniger naheliegende Form des Antisemitismus ablehnten, in etwa gleich war, lehnten 18,4 Prozent mehr Konservative den für sie naheliegenden traditionellen Antisemitismus ab als Labouranhänger den für sie näherliegenden israelbezogenen Antisemitismus.
  • Bevor Sie jetzt denken, bei den dem israelbezogenen Antisemitismus zugeordneten Aussagen habe es sich in Wirklichkeit nur um den Ausdruck einer ganz harmlosen and allzu berechtigten Kritik an der israelischen Regierung gehandelt, und das Ganze sei ein abgekartetes Spiel gewesen, hier drei Beispiele: Von den Labouranhängern unter den Befragten meinten 36 Prozent, dass „Israel die Palästinenser so behandelt wie die Nazis die Juden“; nur 52 Prozent von ihnen stimmten der Aussage zu, dass „Israel sich zurecht gegen jene verteidigt, die es zerstören wollen“; und nur 37 Prozent meinten, es wäre ihnen recht, „Zeit mit Leuten zu verbringen, die Israel unverhohlen unterstützen“.
  • Die gleiche Umfrage ermittelte außerdem, dass „Antisemitismus unter Linksradikalen inzwischen häufiger vorkommt als unter Rechtsradikalen“ (S. 3). Von den Linksradikalen unter den Befragten stimmten 60 Prozent der Aussage zu, Israel behandele die Palästinenser so wie die Nazis die Juden behandelt hätten. Zweidrittel der Anhänger Corbyns unter den Befragten stimmten bis zu drei, das verbleibende Drittel mindestens vier antisemitischen Aussagen zu (S. 4).

Aber wen kümmert‘s, schließlich handelt es sich ja hier um Satire. Es fiele mir nicht ein zu bestreiten, dass Gidley, McGeever und Feldman durch diese Handhabung der betreffenden Statistiken ein interessantes Licht auf irgendetwas geworfen haben. Dass es sich bei diesem Irgendetwas um die Wirklichkeit handelt, scheint mir allerdings sehr fraglich zu sein.

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