Dieser Text ist Teil einer grundsätzlicheren Kritik an der Arbeit des Pears Institute for the Study of Antisemitism in London, einem An-Institut am Birkbeck College (University of London), das in diesem Jahr seit zehn Jahren besteht. Hier geht es mir um die 2018 veröffentlichte Metastudie „Antisemitismus und Immigration im heutigen Westeuropa. Gibt es einen Zusammenhang? Ergebnisse und Empfehlungen einer Studie aus fünf Ländern“. Sie fasst die Ergebnisse eines größeren von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) in Auftrag gegebenen und vom Direktor des Pears Institute David Feldman geleiteten, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung durchgeführten Forschungsprojekts zusammen.
Die Schlussfolgerungen dieser Metastudie sind zwar verschiedentlich auf der politischen Ebene kritisiert worden, doch scheint sich bislang kaum jemand ernsthaft mit ihrer Methodik, um die es mir hier in erster Linie geht, befasst zu haben. Allerdings wird sich recht bald zeigen, dass sich die Fragen ihrer Methodik nicht ohne weiteres von der politischen Ausrichtung der Studie trennen lassen. Ich wollte diese Kritik eigentlich gleich nach Erscheinen der Studie verfassen, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass ich sie irgendwo würde veröffentlichen können. Daher habe ich die folgenden kritischen Bemerkungen erst jetzt zusammengestellt, da ich das Ergebnis in meinem Blog veröffentlichen kann. Immerhin hat das den Vorteil, dass ich mich nicht auf Euphemismen verlegen muss, um die Kritik irgendwie durch die peer review zu schmuggeln, und die ganze Sache auf eine etwas unterhaltsamere Weise vortragen kann, die vielleicht auch einem breiteren Publikum zugänglich ist. Im Übrigen ist diese Diskussion wie gesagt Teil einer umfassenderen Kritik am Pears Institute. Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich diese nicht unternehme, um den Kollegen des Pears Institute mutwillig das Leben schwer zu machen, sondern weil ich glaube, durch meine Kritik mit Blick auf die Erforschung des Antisemitismus, momentane Bestrebungen, ihn zu bekämpfen, und den Zusammenhang zwischen beidem, auf wichtige Fragen hinweisen zu können.
Ich gehöre gewiss nicht zu jenen, die von sich behaupten würden, sie seien irgendwie „objektiv“, und ich bin keineswegs ein Gegner der parteiischen Wissenschaft. Andernfalls müsste ich auch all meine eigenen Arbeiten in Bausch und Bogen verwerfen. Mit parteiischer Wissenschaft haben wir es allerdings nur zu tun, wenn sie nicht nur parteiisch, sondern auch wissenschaftlich ist, sich also transparenten methodologischen Standards verpflichtet weiß, und ihre Schlussfolgerungen nicht einfach nur in den Raum stellt, sondern zeigt, warum die eigenen Schlüsse plausibler sind als die Alternativen.
Mit parteiischer Wissenschaft haben wir es allerdings nur zu tun, wenn sie nicht nur parteiisch, sondern auch wissenschaftlich ist.
Es spricht auch gar nichts dagegen, Forschungsvorhaben durchzuführen, um eine bestimmte bereits bestehende Annahme zu bestätigen. Dieses Vorgehen dürfte wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellen, auch wenn Wissenschaftlicher dies oftmals weder sich selbst noch anderen gegenüber zugeben mögen. Allerdings muss man sehr genau darüber nachdenken, wie die eigenen bereits bestehenden Annahmen die eigene Wahrnehmung womöglich auf problematische Weise beeinflussen und einen in Versuchung führen könnte, die eigene Argumentation kurzzuschließen und Tatsachen anzuführen, die sich zwar auf den ersten Blick mit den eigenen Annahmen zu decken scheinen, diese aber bei genauerer Untersuchung nicht wirklich belegen.
Dass man sich aus Datenbeständen Rosinen herauspickt, die andere anders eingeschätzt haben als man selbst, gehört auch zum völlig legitimen Handwerk. Oftmals führt die Frage, warum unterschiedliche Wissenschaftler ein und denselben Datenbestand unterschiedlich ausgewertet haben, sogar zu besonders instruktiven Beobachtungen (womit ich allerdings keinesfalls sagen will, jede Interpretation sei gerade so gut wie jede andere). Problematisch wird das Ganze jedoch, wenn man sich auch unter den Interpretationen die Rosinen herauspickt. Wenn ein und derselbe Autor bzw. ein und dieselbe Publikation mit Blick auf den gleichen Kontext und auf Grundlage der gleichen Daten sowohl Schlüsse zieht, die einem passen, als auch solche, die einem widerstreben, besteht immerhin die Gefahr, dass auch die vermeintlich korrekte Schlussfolgerung auf einer fehlerhaften Ableitung beruht.
Schließlich sollte man sich zu seinen eigenen Intentionen unumwunden bekennen. Wenn mir Schumann wesentlich mehr zusagt, ich aber aus irgendwelchen Gründen gezwungen bin oder mich verpflichtet fühle, ein Buch über Schubert zu schreiben, sollte es dann wirklich ein Buch über Schubert sein und nicht ein Manifesto, das den Lesern Schumanns Überlegenheit einbläut und ihnen erklärt, dass ein Buch über Schubert sie gar nicht zu interessieren habe.
Es wäre töricht von mir, verbergen zu wollen, dass ich in der Tat davon ausgehe, dass Feldman und seine Kollegen dazu geneigt haben, und es auch von vornherein darauf anlegten, die Bedeutung des Antisemitismus unter muslimischen Migranten in Westeuropa im Allgemeinen und den in den Jahren 2014 bis 2016 eingewanderten Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak im Besonderen klein zu reden. Allerdings wäre fast alles, was ich im Folgenden zu sagen habe, auch dann gültig, wenn ich mit Feldman und seinen Kollegen in jeder Nuance übereinstimmen würde. In öffentlichen Debatten und der politischen Auseinandersetzung mag es zu viel verlangt sein, dass ‚richtige‘ Schlussfolgerungen nicht auf falschen Ableitungen beruhen dürfen, doch unter Geistes- und Sozialwissenschaftlern können Schlussfolgerungen, die auf falschen Ableitungen beruhen, nicht richtig sein.
Den forschen Ton von Feldmans Metastudie kann man schwer übersehen. Ein Vergleich zwischen dem ersten Zug Feldmans und dem von Günther Jikeli in seiner teilweise ähnlich gelagerten Studie Einstellungen von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak zu Integration, Identität, Juden und Shoah mag ihn in ein noch schärferes Licht rücken. Feldman beginnt wie folgt:
Zuwanderer, die aus der Region Nahost und Nordafrika nach Europa kommen, bilden seit 2011 das symbolische Zentrum der Migrationsdebatte. … Im Rahmen dieser Debatte wird immer wieder geäußert, dass neue Migranten, und insbesondere Zuwanderer aus der Region Nahost und Nordafrika (MENA-Migranten), Antisemitismus mit nach Europa brächten. Diese Behauptung wird in verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Formen geäußert. Dennoch ist die Verknüpfung von zunehmendem Antisemitismus mit Zuwanderern aus Nahost und Nordafrika in Europa weit verbreitet und muss evaluiert werden (S. 7).
Und hier Jikeli zum Vergleich (p. 4):
Der Anstieg von Antisemitismus in Deutschland und weltweit führt zu einer großen Beunruhigung … Antisemitismus lässt sich nicht auf einzelne gesellschaftliche Gruppen beschränken. Er findet sich sowohl im rechten und linken politischen Spektrum als auch in der gesellschaftlichen Mitte. Auch Zuwanderer sind nicht frei von Antisemitismus. … Vor dem Hintergrund, dass eine relativ große Zahl von Geflüchteten aus Ländern kommt, in denen Judenhass Teil der staatlichen Propaganda und Schulbildung ist, stellt sich aber die berechtigte Frage, ob die Gefahr des Antisemitismus mit den jüngsten Zuwanderern steigt und wenn ja, was getan werden kann, um dem zu begegnen.
Der Eindruck, der sich bei der Lektüre von Feldmans Metastudie eh aufdrängt, ist hier umso deutlicher zu spüren. Für Feldman ist es nicht der mögliche Antisemitismus eines Teils der Migranten oder Flüchtlinge, der das Problem darstellt, sondern die Behauptung, dass dieser Antisemitismus (den er natürlich auch nicht leugnen kann) Beachtung verdient. Sein eigentlicher Bezugsrahmen ist die „Migrationsdebatte“ und deren ‚Symbolik‘. Dagegen sieht Jikeli das Problem im möglichen Antisemitismus unter Flüchtlingen und dessen möglicher Bedeutung. Feldman will einer seines Erachtens rassistische Wahrnehmungsweise diskreditieren, Jikeli will herausfinden, ob Antisemitismus unter den Flüchtlingen tatsächlich ein Problem darstellt und, falls ja, was dagegen getan werden könnte.
Nun gibt es ja mindestens zwei weitere entscheidende Unterschiede zwischen diesen beiden Studien. Zum einen geht Feldman davon aus, dass der Antisemitismus in den letzten Jahren nicht nur nicht zugenommen, sondern in Wirklichkeit abgenommen hat. Er räumt zwar ein, dass etliche Juden und jüdische Organisationen das anders sehen, doch ist er sich sicher, dass relevante Statistiken seine Annahme bestätigen. Damit wird Jikeli umgehend zum Panikmacher, da sein Ansatzpunkt ja die Sorge um einen vermeintlichen Anstieg des Antisemitismus ist, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Zum andern war das von Feldman geleitete Forschungsprojekt wesentlich breiter angelegt als Jikelis Studie. Man kann sich ganz gut vorstellen, was sich da zugetragen hat. Zunächst gab es schon seit Längerem eine Diskussion darüber, welche Auswirkungen die seit Jahrzehnten stattfindende vermehrte Einwanderung von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern haben könnten. Dabei spielte der Antisemitismus meist eine untergeordnete Rolle, obwohl die islamistischen Terroranschläge auf jüdische Individuen und Einrichtungen in Westeuropa im letzten Jahrzehnt gelegentlich etwas mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenkten. (Da es sich hierbei um eine deskriptive und nicht um eine normative Aussage handelt, brauche ich mich zum Verhältnis von Islam und Islamismus an dieser Stelle nicht zu äußern.) Dann fand vor allem 2015 die Masseneinwanderung von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Irak statt, die verstärkt zu Sorgen um deren möglichen bzw. wahrscheinlichen Antisemitismus führte. Schließlich konnte ja niemand bestreiten, dass in deren Herkunftsländern antisemitische Wahnvorstellungen nicht nur für selbstverständliche Wahrheiten gehalten, sondern als solche auch systematisch propagiert und der Bevölkerung anerzogen werden. Es kommt ja wohl nicht von ungefähr, dass von den Beispielen, die Feldman für die seines Erachtens unbegründete Panikmache bezüglich der angeblichen Verbindung zwischen „Muslimen“ und Antisemitismus präsentiert, eines aus dem Jahr 2015 und die übrigen aus den Jahren 2016 und 2017 stammen.
Statt sich nun aber gezielt diesem Problem zuzuwenden, hat irgend ein inspiriertes Individuum oder eine begnadete Gruppe von Individuen sich gedacht, man könne die Gelegenheit, sich vor dem Hintergrund dieser aktuellen Debatte über die Flüchtlinge ein gut verkäufliches Forschungsprojekt fördern zu lassen, auch nutzen, um gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Das konnte natürlich nur zu unnötiger Verwirrung führen. Wenn man eben angekommene Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in denselben Topf wirft wie Migranten aus der Türkei, die seit zwei oder drei Generationen in Deutschland leben, Migranten aus Algerien, Marokko und Tunesien, die seit zwei oder drei Generationen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden leben, und Migranten vom indischen Subkontinent, die seit zwei oder drei Generationen im Vereinigten Königreich leben, ist es ja nicht eben verwunderlich, wenn man am Ende über keine der betreffenden Gruppen wirklich etwas Genaues weiß. Es ist nicht ohne Ironie, dass damit eine Vorgehensweise gewählt wurde, der sonst die Kritik Feldmans und seiner Kollegen gilt: Es werden alle Muslime bzw. alle Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern (ob Feldman diese Unterscheidungen verstehen würde, sei dahingestellt) in einen Topf geworfen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass damit eine Vorgehensweise gewählt wurde, der sonst die Kritik Feldmans und seiner Kollegen gilt: Es werden alle Muslime bzw. alle Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern (ob Feldman diese Unterscheidungen verstehen würde, sei dahingestellt) in einen Topf geworfen.
Für ihn hat diese Verfahrensweise drei entscheidende Vorteile.
Feldmans eigentliche Intention verdeutlicht auch der Abschnitt „Gesellschaftliche und politische Konzentrationen“, in dem diskutiert werden soll, „ob es, ungeachtet des Gesamtbildes“, also des allgemeinen Rückzugs des Antisemitismus, „in bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Gruppen einen hohen oder zunehmenden Grad an Antisemitismus gibt“ (S. 23). Es folgen zwei Unterabschnitte: „Muslime und Antisemitismus“ und „Antisemitismus und Rechtsextremismus“. Dass Feldman, der maßgeblich an dem von Shami Chakrabarti vorgenommenen Versuch, das Ausmaß des Antisemitismus in der Labour Party zu vertuschen, beteiligt war, sich sicher ist, dass es auf der Linken bestimmt nichts zu sehen gibt, kann kaum überraschen. Doch wie kommt der Abschnitt zu „Antisemitismus und Rechtsextremismus“ hierher, zumal die Studie ohnehin an jeder passenden und unpassenden Stelle darauf hinweist, dass die einzige wirkliche Gefahr vom rechtsextremen Antisemitismus ausgeht?
Es handelt sich hierbei um eine elaborate Form dessen, was man im Englischen whataboutism nennt, also den Impuls, auf Anwürfe, die einem selbst unangenehm sind, mit „ja, aber was ist mit…“ zu antworten, um so die Aufmerksamkeit auf das Ungenügen anderer umzulenken.
Es handelt sich hierbei um eine elaborate Form dessen, was man im Englischen whataboutism nennt, also den Impuls, auf Anwürfe, die einem selbst unangenehm sind, mit „ja, aber was ist mit…“ zu antworten, um so die Aufmerksamkeit auf das Ungenügen anderer umzulenken. In der Einleitung darauf hinzuweisen, dass man die Form des Antisemitismus, mit der man sich in dieser Studie befasst, nicht für die gefährlichste hält, ist ja das eine. Dass man diesen Hinweis dann mehrmals wiederholt, mag auch noch hingehen. Doch gleich einen ganzen eigenen Abschnitt zu der Form des Antisemitismus, um die es in dieser Studie nicht geht? Dass der durchschnittliche Antisemitismus unter muslimischen Migranten in Westeuropa den der Gesamtbevölkerung um ein vielfaches übersteigt, kann auch Feldman nicht bestreiten. Doch geht es ihm eben weder um diesen Antisemitismus noch um dessen Bedeutung. Man kann nur folgern, dass er es für völlig illegitim hält, diese Fragestellung überhaupt zu verfolgen, weil sie lediglich vom rechtsextremen Antisemitismus ablenkt und ihm damit letztlich zuarbeitet.
Hier noch ein weiteres Beispiel für die verschrobene Art, in der dieses Forschungsprojekt angelegt wurde. Nicht nur Feldman und seine Kollegen, sondern etliche Forscher, die in diesem Bereich tätig sind, empören sich regelmäßig über die „Behauptung“, die Flüchtlinge würden den Antisemitismus aus ihren Herkunftsländern „mitbringen“ oder „importieren“. Diese Behauptung ist offenbar niederträchtig im Extrem und zutiefst rassistisch. Aber ist es denn nicht völlig selbstverständlich, dass Menschen, wenn sie in ein anderes Land ziehen, allerlei Ansichten und Gewohnheiten mit sich bringen, so sehr die Integration in ihrem neuen Land diese dann verändern mag? Wir werden doch oft auf die wunderbaren Beiträge hingewiesen, die Migranten zu unserer Kultur leisten. Nur der Antisemitismus kommt offenbar nicht mit. Ich hole etwas aus: Deutschland produziert eigene Tomaten, importiert aber auch Tomaten aus anderen Ländern. Es importiert auch Gemüsesorten, die in Deutschland nicht gedeihen. Man kann doch einräumen, dass Deutschland exotische Früchte importiert, ohne damit die Existenz oder Bedeutung heimischer Tomaten in Abrede zu stellen. Erst eine gewissermaßen merkantilistische Sichtweise (es gibt nur ein endliches Maß an Kritik, wenn ich sie gegen eine Form des Antisemitismus einsetze, muss ich die anderen daher gewähren lassen) bzw. das Bedürfnis, gewissen Formen des Antisemitismus aus welchen Gründen auch immer die Bedeutung abzusprechen, lässt die Behauptung, Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak würden antisemitische Sichtweisen und Überzeugungen, die man ihnen dort nachweislich beizubringen versucht hat, in ihre neuen Ländern mitbringen oder importieren, bedenklich erscheinen. Dabei können wir uns einer Tatsache absolut sicher sein: An Formen des Antisemitismus, die wir bekämpfen können, wie es uns gewiß nie mangeln!
Es bedarf noch einer weiteren Vorbemerkung. Sozialwissenschaftler legen großen Wert auf die Qualitätskontrolle. In unserem Zusammenhang bedeutet das zunächst einmal, dass Leute nicht einfach in der Weltgeschichte herumlaufen und sich mir nichts dir nichts als Laienantisemiten betätigen dürfen. Wer Antisemit sein will, muss dazu schon auf methodologisch saubere Art und Weise befugt sein, die Sache schon ernsthaft betreiben und es auch wirklich ernst meinen. Wer seine antisemitischen Wahnvorstellungen noch an einer Hand abzählen kann und all seine Besitztümer und das Leben seiner Liebsten nicht augenblicklich der Sache des Antisemitismus opfern würde, darf den Ehrentitel Antisemit nicht führen und muss sich erstmal richtig qualifizieren.
Wer seine antisemitischen Wahnvorstellungen noch an einer Hand abzählen kann und all seine Besitztümer und das Leben seiner Liebsten nicht augenblicklich der Sache des Antisemitismus opfern würde, darf den Ehrentitel Antisemit nicht führen und muss sich erstmal richtig qualifizieren.
Kurzum, wenn die Zeitungen über Umfragen zum Antisemitismus berichten, gilt dabei in der Regel nur als Antisemit, wer mindestens einem halben Dutzend antisemitischer Aussagen zugestimmt hat. Im Rahmen des ADL Global 100 Anti-Semitism Index, auf den Feldman sich positiv bezieht, müssen die Befragten beispielsweise bei einer Auswahl von elf antisemitischen Behauptungen mindestens sechs zustimmen. Zudem versuchen die Forscher oft auch die Intensität der jeweiligen Zustimmung zu erfassen. So gibt es bei einer einschlägigen deutschen Umfrage (ALLBUS 2006, 2012) sieben mögliche Stellungnahmen zu der Behauptung, die Juden übten weltweit zu viel Macht aus. Das nenne ich Genauigkeit!
Die Versuchung liegt nahe, die Schlussfolgerung umzukehren. Wie die Autoren einer 2017 veröffentlichten Broschüre der EKD, Antisemitismus: Vorurteile Ausgrenzungen Projektionen: Und was wir dagegen tun können, anmerkten, weisen „nur etwa elf Prozent der Deutschen … in Umfragen antisemitische Äußerungen vollständig zurück“ (S. 4). Jedenfalls führt diese Praxis dazu, dass Umfragen und Studien, bei denen die Befragten nicht der genügenden Anzahl antisemitischer Aussagen zugestimmt haben, leicht diskreditiert werden können. Ganz gleich, was man von dieser Konvention hält, müsste man sich aber darauf einigen können, dass man diesen Maßstab wenn, dann konsequent anwendet. Bei Feldman wird er aber, wie wir sehen werden, dann ins Feld geführt, wenn ein Befund ihm nicht passt, im umgekehrten Fall ist davon keine Rede.
Dies verweist obendrein auf einen weiteren wichtigen Punkt: In der wissenschaftlichen Sphäre tragen Sozialwissenschaftler ihre zutage geförderten Befunde in der Regel mit einer Vielzahl verschiedener Vorbehalte vor. Beispielsweise mag es Gründe geben anzunehmen, dass die Befragten nicht ehrlich antworteten, sondern gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden suchten. Nun besteht der Zweck einer Metastudie zugegebenermaßen nicht darin, die Aussagen der berücksichtigten Studien alle nochmals zu wiederholen, sondern sie zusammenzufassen. Dabei gehen viele der ursprünglichen Vorbehalte zwangsläufig verloren. Dennoch sollte auch hier gelten, dass die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung spezifischer Vorbehalte auf transparente und konsequente Weise erfolgt. Ob die jeweiligen Vorbehalte einem in den Kram passen oder nicht, halte ich nicht für ein legitimes Auswahlprinzip, scheint aber Feldmans Kriterium gewesen zu sein. Außerdem sollte man vielleicht darüber nachdenken, wie forsch man sein sollte, wenn man sich auf Daten beruft, die mit gravierenden Vorbehalten präsentiert wurden.
Mir ist schon klar, dass die Leser dieser Diskussion mich so oder so für ziemlich obsessiv halten werden. Dennoch habe ich, so schwer es sein mag, die zu glauben, tatsächlich Besseres zu tun, als jeder möglichen oder tatsächlichen Ungenauigkeit in Feldmans Bericht detailliert nachzugehen. Im folgenden begrenze ich mich daher auf eine Auswahl von sieben besonders instruktiven Beispielen. Sie beziehen sich überwiegend auf Deutschland.
Vergleichen sie bitte die folgenden beiden Passagen aus Feldmans Bericht:
Eine Studie in der größten ethnischen Gruppe, derjenigen mit türkischem Hintergrund, ergab, dass 49 % der Befragten eine positive Haltung gegenüber Juden ausdrückten, während 21 % eine negative Haltung zeigten und 30 % eine neutrale Antwort gaben (S. 23/24).
In Bezug auf Antisemitismus unter Flüchtlingen liegen uns Daten aus einigen wenigen Studien vor. Eine davon befasste sich ausschließlich mit Bayern und ergab, dass die Mehrheit (55 %) der Flüchtlinge aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan der Aussage zustimmen, dass Juden in der Welt zu viel Einfluss haben (S. 29/30).
Dem nackten Auge dürften zwei Unterschiede auffallen. Erstens befassen sich die jeweiligen Studien mit unterschiedlichen Gruppen. Von den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen, die bei der ersten Studie befragt wurden, waren 60 Prozent selbst nach Deutschland gekommen, lebten aber im Schnitt bereits seit 31 Jahren hier, die übrigen 40 Prozent waren bereits in Deutschland geboren worden.
Zweitens passt der erste Befund Feldman in den Kram, her zweite aber nicht. Also qualifiziert er den zweiten Befund wie folgt:
Wir sollten dabei jedoch berücksichtigen, dass, obwohl dies die Verbreitung eines bestimmten antisemitischen Gedankens belegt, es nicht die Kriterien erfüllt, die im Allgemeinen zur Identifizierung von „Antisemiten“ oder „Antisemitismus“ herangezogen werden (S. 30).
Zunächst fallen einem die Gänsefüßchen um „Antisemiten“ und „Antisemitismus“ auf. Etwas anderes ist aber wichtiger: Wieviele Fragen wurden wohl den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen in der ersten Studie gestellt, deren Befund Feldman so gut gefällt (hierauf komme ich nochmals zurück)? Sie haben es erraten. Auch dieser Befund beruht auf bloß einer Frage und noch dazu auf einer Art von Frage, die kein ernstzunehmender Forscher zur Erfassung des Antisemitismus (worum es bei der betreffenden Umfrage auch gar nicht ging) einsetzen würde. Doch wen schert’s, wenn einem der Befund in den Kram passt? Streng genommen könnte man sogar sagen, den türkischen Migranten bzw. türkischstämmigen Deutschen in der ersten Studie sei nicht einmal eine ganze Frage gestellt worden, denn die betreffende Frage lautete: „Wie ist Ihre persönliche Haltung zu den Mitgliedern folgender Gruppen?“ Dabei ging es um vier Gruppen: „Menschen mit deutscher Herkunft“, Christen, Atheisten und Juden. Dass die Frage dadurch auf Juden als Angehörige einer anderen Religion fokussiert wurde, sollte uns nicht überraschen, der der Titel der betreffenden Studie lautet Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland.
Allerdings gibt es auch sonst noch einiges zu Feldmans Freude über die Haltung der türkischen Nichtflüchtlinge zu sagen:
Das Feldman im Umgang mit den Urteilen seiner eigenen Zuträger nicht gerade zimperlich war, sahen wir ja eben schon. Hierzu noch ein weiteres Beispiel: Auf Seite 29 (von 30) seiner Bestandsaufnahme kommt Feldman schließlich doch noch auf die Flüchtlinge aus mehrheitlich muslimischen Ländern zu sprechen, die in den letzten Jahren nach Westeuropa gekommen sind. In diesem Zusammenhang ist er besonders von einer Studie beeindruckt, die uns zwar über Einstellungen der Flüchtlinge Juden gegenüber nichts sagen kann, in der sich aber immerhin 96 Prozent der befragten Flüchtlinge leidenschaftlich zur Demokratie bekannten. Zugegeben, 21 Prozent wünschten sich zugleich eine „starke Führungspersönlichkeit … die sich nicht um Parlamente und Wahlen schert“, das ist aber offenbar bei der Gesamtbevölkerung auch nicht anders. „Diese Ergebnisse“, so Feldman, „unterstützen das anti-schwarzseherische Lager (S. 29).
Diese Formulierung findet sich, wenn auch in etwas qualifizierterer Form, auch in Bereks Bericht zur Lage in Deutschland: „[A]s a tendency“, so Berek, „these results support the camp of the anti-alarmists“ (S. 63). Allerdings hatte er dann umgehend hinzugefügt:
As a caveat, however, the answers may reflect the influence of social desirability. After all, how else would a refugee reply on leaving her integration class (where she learned how highly democracy, civil rights and equality are officially esteemed in the country that hosts her) when an academic researcher with a laptop questions her about precisely these values?
Davon ist bei Feldman allerdings keine Rede mehr.
Feldmans Behauptung, dass der Antisemitismus sich seit 2011 auf dem Rückzug befinde, beruht unter anderem auf den Fallzahlen Politisch Motivierte Kriminalität des Bundesinnenministeriums. In Deutschland, schreibt er,„erreichte die Zahl der antisemitischen Straftaten … im Jahr 2014 einen Höhepunkt, ungeachtet der drastischen Zunahme der Zahl an MENA-Migranten im folgenden Jahr“ (S. 22).
Dieser Zusammenfassung Feldmans liegt die folgende Passage in Bereks Bericht zugrunde (auf einige der von Berek in diesem Zusammenhang formulierten Vorbehalte komme ich gleich noch zurück):
Regarding antisemitic incidents recorded by the police, there is no sign of a rise in antisemitic criminal offences after the increased immigration in the second half of 2015. After a peak of 1,596 cases in 2014 …, in 2015 there were 1,366 cases, … a decrease to the level seen in 2013 (1,275 cases …). Anti-Israel offences developed along the same trend. In 2013 there were 41 cases …; in 2014, 575 cases …; in 2015 62 cases … The long-term trend even shows a slight decline in the still-high numbers, with the peaks coinciding with rising tensions in the Arab-Israeli conflict (p. 52).
Was auch immer man anhand der betreffenden Zahlen womöglich über längerfristige Trends folgern kann, so steht eines auf jeden Fall fest, dass sie nämlich widersprüchlich sind und die allzu einfachen Schlussfolgerungen, die Berek und in noch höherem Maße Feldman aus ihnen ziehen, kaum hergeben. Hierzu einige Beispiele:
Wesentlich schwerer wiegt allerdings die Tatsache, dass der im April 2018 veröffentlichte Bericht die bereits am 24.4.2017 offiziell bekanntgegebenen Fallzahlen Politisch Motivierte Kriminalität für 2016 nicht berücksichtig hat.
Tatsächlich haben wir es hier mit einem besorgniserregenden Teufelskreis zu tun. Die trügerischen Statistiken verleiten Wissenschaftler dazu, das Maß des rechten und rechtsextremen Antisemitismus zu übertreiben, was die Polizei wiederum in der Annahme bestätigt, die allermeisten erfassten antisemitischen Straftaten seien auch dann dem rechten Lager zuzuordnen, wenn es dafür gar keine konkreten Anhaltspunkte gibt.
Beispiel 1: Feldman äußert sich positiv über eine Stelle aus dem Bericht Antisemitismus in Deutschland, den der Unabhängige Expertenkreises Antisemitismus 2017 dem Bundestag vorlegte. Er schreibt:
Im Bericht Antisemitismus in Deutschland (2017), erstellt von einem vom Deutschen Bundestag beauftragten Fachgremium, wird darauf hingewiesen, dass wir bei der Beurteilung nicht nur das berücksichtigen sollten, was jemand sagt, sondern auch zu wem er es sagt, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht. Wir stimmen mit Antisemitismus in Deutschland dahingehend überein, dass wir in Bezug auf Kritik an Israel die Existenz einer „Grauzone“ anerkennen, die zu einer legitimen Uneinigkeit hinsichtlich dessen führt, was als antisemitisch zu betrachten ist und was nicht (S. 20).
Sieht man sich den betreffenden Abschnitt im Bericht des Unabhängigen Expertenkreises an, stellt sich heraus, dass dort entgegen Feldmans Behauptung gerade nicht auf die jeweilige Absicht abgehoben und im Übrigen die Beweislast recht eindeutig bei den Urhebern jeglicher Äußerung verortet wird, die als antisemitisch wahrgenommen werden könnte. Im Bericht heißt es dazu im einzelnen:
Der Fokus sollte in diesem Zusammenhang … weniger auf der Frage liegen, ob eine Äußerung antisemitisch gemeint war oder nicht — dies lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären. Stattdessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl als kritische Positionierung als auch als Antisemitismus verstanden werden können. Es kommt daher darauf an, wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstelltes jüdisches Kollektiv erfolgt oder ob im Sinne einer »Umwegkommunikation« Israel nur an die Stelle »der Juden« quasi als Legitimierung antisemitischer Einstellungen tritt.
Es lässt sich festhalten, dass der Eintritt in den Diskursverlauf zur Kritik an der Politik Israels immer mit der
Problematik verbunden ist, dass Äußerungen zumindest ambivalent verstanden werden können, in jedem Fall
aber israelbezogene Äußerungen dann als antisemitisch zu bezeichnen sind, wenn bekannte Stereotype benutzt
oder aber Morde an Juden gerechtfertigt werden (S. 27/28).
Das dürfte es wohl kaum gewesen sein, was Feldman vorschwebte, als er sich mühsam das Zugeständnis abrang, es gebe „Situationen …, in denen Kritik an Israel und/oder am zionistischen Gedanken auch eine Gelegenheit für antisemitische Äußerungen und antisemitisches Verhalten bietet“ (S. 20). Diese Formulierung ist auch insofern großartig, als aus ihr wieder einmal deutlich wird, dass für Feldman das Problem nicht darin besteht, dass Menschen diese „Gelegenheit“ nutzen, sondern darin, dass diese sich „bietet“. Subjekt ist bei ihm nie der Antisemit (es sei denn, er wäre Rechtsextremist), sondern stets der Antisemitismus, der sich noch des wohlwollendsten Israelkritikers bemächtigen und ihn zu seinem Spielzeug machen kann (siehe hierzu auch https://ist-der-ruf-erst-ruiniert.blog/2020/05/31/ich-wars-nicht-es-war-das-reservoir/).
Subjekt ist bei Feldman nie der Antisemit (es sei denn, er wäre Rechtsextremist), sondern stets der Antisemitismus, der sich noch des wohlwollendsten Israelkritikers bemächtigen und ihn zu seinem Spielzeug machen kann.
Beispiel 2: Wie eingangs bereits erwähnt, verweist Feldman auch auf Jikelis Studie von 2017. Besonders gut gefällt ihm Jikelis Befund, das von den befragten Flüchtlingen (in Feldmans Paraphrase) „[v]iele, jedoch nicht alle … betonten …, dass es etwas anderes sei, über Juden zu sprechen als über Israel“ (S. 30).
Hierzu einige relevante Zitate aus Jikelis Studies:
Viele Interviewte betonen, dass sie zwischen Juden und Israel trennen. Dies gelingt aber gerade bei einer starken Abneigung gegen Israel nur punktuell. Andere wiederum sehen explizit keinen Unterschied zwischen Israel und „den Juden“ (S. 9).
Hinzu kommt, dass die Vorstellungen der Befragten von Jüdinnen und Juden einerseits und Israel beziehungsweise Israelis andererseits häufig ineinander übergehen, auch bei denen, die eingangs betonen, dass es einen großen Unterschied zwischen Juden und Israelis gibt (S. 23).
Die oft gemachte, explizite Trennung von Israelis einerseits und Juden andererseits dient meist dazu, sich vom Antisemitismus abzugrenzen, gleichzeitig aber die negative Einstellung gegenüber Israel zu legitimieren (S. 28).
Jikeli stellt außerdem klar, dass die von ihm Interviewten, wenn sie die „Besatzung Palästinas“ beklagten, damit „allerdings nicht die Besatzung des Westjordanlandes, sondern die Staatsgründung Israels“ meinten. Trotz der prominenten Rolle, die der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern für die befragten Flüchtlinge spielte, war der traditionelle Antisemitismus bei ihnen allerdings prononcierter als der israelbezogene. Mit Feldmans Schlussfolgerungen ist all das völlig inkompatibel.
Dass Feldman es auch mit der Aneignung von Interpretationen nicht allzu genau nimmt, mag das folgende Beispiel illustrieren. Angesichts der heldenhaften Rolle, die Feldman bei der Verteidigung ganz und gar unschuldiger und legitimer Israelkritik gegen die bösartige Beschuldigung des Antisemitismus spielt, mag man sich zunächst wundern, dass er sich im Rahmen seiner anfänglichen Übersicht ausgerechnet auf einen Bericht des israelischen Diaspora-Ministeriums beruft. Dieser Bericht ist sogar sein einziger Beleg dafür, dass es trotz all der Unkenrufe auch noch nichtschwarzseherische Realisten gibt. In dem Report on Antisemitism in 2016 steht nämlich, dass “the wave of immigrants from Muslim countries is not causing an increase in antisemitism” (p. 10).
Er mag dies für einen besonders schlauen Schachzug gehalten haben, steht am Ende aber nur als Schlaumeier da. Denn es handelt sich hier ja nicht um eine spezifische Schlussfolgerung, die auf einem konkreten Datensatz beruht, sondern um eine allgemeine Einschätzung, ein allgemeines Urteil. Somit stellt sich die Frage, warum diese Einschätzung verlässlicher oder weniger verlässlich sein sollte als, zum Beispiel, die Sorge, die in dem selben Bericht mit Blick auf den Antisemitismus in der britischen Linken zum Ausdruck kommt, und die explizite Kritik, die darin an dem Versuch geübt wird, das Ausmaß des Antisemitismus in der Labour Party mit Hilfe des Chakrabarti-Berichts zu vertuschen, an dem Feldman aktiv mitwirkte und dessen Veröffentlichung er ausdrücklich begrüßte? Dass linker Antisemitismus bei Feldman gar nicht existiert, sahen wir ja schon.
Feldman hätte natürlich auch genauer hingucken können, um zu ermitteln, auf welcher Datengrundlage diese Einschätzung eigentlich basierte. Im Bericht des Diaspora-Ministeriums heißt es zum Beispiel, dass „Federal German government figures indicate that between January and September 2016, 461 anti-Semitic incidents were reported in Germany“ (S. 36). Wer weiß, was da schief gelaufen ist. Jedenfalls wurden für 2016 schließlich insgesamt 1468 antisemitische Straftaten offiziell erfasst. (Besonders lustig ist dabei, dass Feldman also Zugang zu einer Quelle hatte, in der bereits vorläufige Angaben zur Zahl der für 2016 erfassten antisemitischen Straftaten in Deutschland standen, die zwar falsch waren, gerade darum aber seiner Argumentation durchaus genützt hätten, wäre es ihm wirklich um die Zahlen gegangen. So entgehen einem beim Rosinenpicken mitunter eben auch Angaben, die man gut hätte gebrauchen können.)
Schließlich verweist die Tatsache, dass der Bericht des Diaspora-Ministeriums sich ausdrücklich auf „the wave of immigrants“ (Betonung hinzugefügt) bezieht, darauf, dass die von Feldman zitierte Einschätzung sich nicht auf alle Formen der Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern seit dem zweiten Weltkrieg, sondern dezidiert auf die unmittelbar vorangegangene Ankunft der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak bezog.
Feldman begnügt sich nicht damit, uns von vornherein einzubläuen, dass wir uns nur dem Antisemitismus der Rechten widmen und alle anderen Formen des Antisemitismus gar nicht beachten sollten. Sollten wir noch immer nicht überzeugt sein, hält er noch ein Totschlagargument für uns parat. Zugegeben, bei den Migranten und Flüchtlingen aus mehrheitlich muslimischen Ländern mag der Antisemitismus weit verbreitet sein, doch sind sie viel zu sehr damit beschäftigt, in ihren neuen Ländern Fuß zu fassen, um ihren Antisemitismus in die Praxis umzusetzen:
Die Daten aus allen fünf Ländern deuten stark darauf hin, dass der Alltag der aktuellen Flüchtlinge und Migranten von Unsicherheit begleitet ist. Ihre Prioritäten liegen darin, einen Ort zum Schlafen zu finden, Papiere zu erhalten und die Sprache ihres neuen Aufenthaltslandes zu lernen, um bezahlte Arbeit zu finden. Kurz gefasst: Ihr Alltag ist eher von den Erfordernissen ihrer schwierigen Situation geprägt als von der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien (S. 29).
Jikeli entwickelt ein ähnliches Argument, begreift aber diesen Sachverhalt als Gelegenheit, dafür zu sorgen dass der anfängliche Integrationsprozess mit einer selbstkritischen Überprüfung etwaiger eigener antisemitischer Überzeugungen einhergeht. Für Feldman ergibt sich daraus lediglich, dass wir uns um den Antisemitismus unter den Flüchtlingen, den auch er nicht leugnen kann, keine Sorgen zu machen brauchen. (Selbst wenn es Bestand hätte, würde dieses Argument uns mit dem Antisemitismus unter anderen Migranten natürlich ohnehin nicht helfen.) Soweit, so gut. Doch kurz zuvor hat Feldman uns darauf hingewiesen, „dass ein Großteil antisemitischen Verhaltens von ‚antisozialer‘ und ‚opportunistischer‘ Natur ist, ohne eine klare ideologische oder religiöse Motivation“ (S. 25). Demnach bedürfte es also gar nicht „der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien“, zu der die Flüchtlinge aus Zeitmangel nicht fähig sein sollen.
Doch kurz zuvor hat Feldman uns darauf hingewiesen, „dass ein Großteil antisemitischen Verhaltens von ‚antisozialer‘ und ‚opportunistischer‘ Natur ist, ohne eine klare ideologische oder religiöse Motivation“ (S. 25). Demnach bedürfte es also gar nicht „der Beschäftigung mit Antisemitismus oder sonstigen Vorurteilen oder Ideologien“, zu der die Flüchtlinge aus Zeitmangel nicht fähig sein sollen.
Im Übrigen bin ich mir nicht sicher, ob Feldman den Flüchtlingen und anderen vor Kurzem erst eingewanderten Migranten mit seiner Argumentation wirklich einen allzu großen Gefallen tut. Immerhin wäre ein unsinnige aber durchaus logische Konsequenz seiner Argumentation ja die, dass man dafür sorgen sollte, dass die Lebensumstände der Flüchtlinge und Migranten dauerhaft so prekär wie möglich bleiben, damit sie auch weiterhin zu beschäftigt sind, um ihren Antisemitismus in die Praxis umzusetzen. Andererseits wissen wir aber auch, dass zunehmende Integration allein das Problem nicht automatisch aus der Welt schafft. In der Regel wächst die Unzufriedenheit der Kinder und Enkel der ursprünglichen Migranten mit ihrer noch nicht vollständigen Integration proportional zur Zunahme ihrer tatsächlichen Integration, und die Kinder und Enkel von Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern sind in vielen Fällen nicht weniger antisemitisch, sondern antisemitischer als ihre Eltern oder Großeltern bzw. ihr Antisemitismus ist ideologisch gefestigter als der ihrer Vorfahren. Ich vermute, dass all dies bei Feldman gar nicht erst vorkommt, weil er Integration für eine gefährliche, bestenfalls zweischneidige Sache hält. Doch darauf kann ich hier nicht auch noch eingehen.
In dem Bestreben, den Antisemitismus unter Muslimen mit Migrationshintergrund in erster Linie mit deren Ausgrenzung zu erklären, hat Feldman noch einen weiteren Vorbehalt Bereks fallen lassen:
It would be questionable indeed to attribute antisemitism only to the circumstances instead of taking people seriously as acting and responsible individuals who make decisions. Otherwise one would be unable to explain why many Muslims with discrimination experience do not entertain antisemitic thoughts (p. 60).
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Wurden die Schlagzeilen erst gedruckt — „No link between Muslim immigration and anti-Semitism, German study says”, „On ne peut faire aucun lien entre l’antisémitisme et l’arrivée des nouveaux migrants”, „‘Antisemitismus ist kein allgemeines Merkmal von Muslimen’: Hat die Judenfeindlichkeit in Europa durch die Zuwanderung zugenommen? Einer Studie zufolge lässt sich diese verbreitete These nicht bestätigen” usw.— kommt es auf all diese Dinge natürlich nicht mehr an. Doch während in der Öffentlichkeitsarbeit und Politik alle Mittel recht sein mögen, sollte es in der Wissenschaft nicht so sein. Allerdings hat sich mir in den letzten zwei Jahrzehnten kaum etwas so deutlich eingeprägt wie die Tatsache, dass Wissenschaftler sich so ziemlich alles erlauben können — außer darauf hinzuweisen, was andere Wissenschaftler sich alles erlauben.