Die „Clintonkluft“ als Verständnishilfe: Warum die allermeisten Auseinandersetzungen um den Antisemitismus ganz sinnlos sind

Paul Klee, Accent im Chaos, 1932, Feder auf Papier mit Leimtupfen auf Karton , 30,9 x 48,7 cm

Team A und Team B

Die folgende Taxonomie ist, wie alle anderen auch, nicht perfekt und deckt nicht wirklich alle denkbaren Fälle ab. Dennoch kann sie meines Erachtens zum besseren Verständnis des Sachverhalts einiges beitragen. Ich behaupte also, dass man die Menschen und Institutionen, die sich ihrer eigenen Auffassung zufolge auf kritische Weise mit dem Antisemitismus befassen, im Allgemeinen zwei Teams zuordnen kann, die ich Team A und Team B nennen werde. Anhand der folgenden Vergleichspunkte kann man die beiden Teams ohne allzu große Schwierigkeiten unterscheiden:

  • Wenn Angehörige von Team A Ausdrucksweisen des israelbezogenen Antisemitismus anprangern, kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Angehörige von Team B darauf bestehen werden, es handele sich in Wirklichkeit nur um eine völlig legitime Form des Israelkritik. Nicht zuletzt, aber nicht nur, weil Team B das, was Team A für israelbezogenen Antisemitismus hält, nicht berücksichtigt, findet es, dass Team A die Bedeutung des Antisemitismus maßlos übertreibt (manche seiner Angehörigen werden sie sogar zu überzeugen versuchen, dass der Antisemitismus seit Jahren kontinuierlich abnimmt).
  • Während die Angehörigen von Team A in der Regel die Spezifizität des Antisemitismus betonen und darauf beharren, man müsse ihn primär als eigenständiges Phänomen auffassen, um ihn wirklich zu verstehen, neigen die Angehörigen von Team B dazu, ihn als Subkategorie des Rassismus oder des religiös motivierten Hasses bzw. einer Mischung aus beidem oder sonst irgendwelcher übergeordneter Kategorien aufzufassen.
  • Während die Angehörigen von Team A in der Regel auf der Singularität der Schoa bestehen und in ihr eine besonders gravierende Zäsur in der Zivilisationsgeschichte sehen, neigen die Angehörigen von Team B zu der Annahme, die Schoa sollte, ähnlich wie der Antisemitismus, vor allem als ein Verbrechen unter anderen im Kanon der rassistischen/kolonialen/imperialen oder sonstigen intersektionalen Formen der Gewalt betrachtet werden.
  • Die Angehörigen von Team A sind in der Regel eher intentionalistisch orientiert und betonen die dem Antisemitismus zugrundeliegenden persönlichen Entscheidungen und die persönliche Verantwortung für diese Entscheidungen stärker. Die Angehörigen von Team B sind dagegen eher strukturalistisch orientiert und konzentrieren sich stärker auf strukturelle Faktoren, die Individuen ihres Erachtens (mehr oder weniger) unabhängig von ihren Intentionen in bestimmte Richtungen lenken.
  • Die Angehörigen beider Teams sind sich in der Regel einig, dass man den Antisemitismus (wenn man darunter antisemitische Wahrnehmungen und Einstellungen versteht) nicht beseitigen kann, weil er gesellschaftlich viel zu tief verankert ist. Die Angehörigen von Team A folgern aus dieser Tatsache, dass man ihn schlagen sollte, wo immer er sich zeigt. Die Angehörigen von Team B dagegen folgern aus dieser Tatsache eher, dass man sorgsam auswählen muss, wo es sich lohnt, gegen den Antisemitismus vorzugehen; dass man den Antisemiten viel zu viel Aufmerksamkeit gewährt und mögliche Verbündete verschreckt, wenn man bei jedem Ausdruck von Antisemitismus gleich hinlangt; und dass es schlimm genug ist, dass man sich mit dem Antisemitismus ohnehin abfinden muss, und man sich dadurch nicht obendrein noch verschiedener politischer Optionen berauben lassen will, nur weil diese ein Antisemitismusproblem haben. Die Angehörigen von Team A wirken folglich immer leicht manisch und obsessiv. Die Angehörigen von Team B sind da wesentlich lockerer und es scheint ihnen stets (zumindest leicht) peinlich zu sein, wenn der Eindruck entsteht, sie würden doch wieder ihr Steckenpferd reiten und sich über Antisemitismus aufregen, obwohl weder Leib noch Leben ganz unmittelbar bedroht sind.

In der Wissenschaft hat Team B Team A inzwischen weitestgehend verdrängt, und wichtige Vorzeigeinstitutionen wie das Pears Institute for the Study of Antisemitism in London und das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin haben sich der Agenda von Team B mit großer Leidenschaft verschrieben.

Sieht man von der Frage des israelbezogenen Antisemitismus einmal ab, sind all diese Gegensätze nicht ganz so eindeutig, wie sie erscheinen mögen. Niemand in Team A würde bestreiten, dass der Antisemitismus auch bestimmte generische Eigenschaften mit anderen Formen des ‚othering‘ teilt. Beide Teams stellt die Frage der Singularität der Schoa vor Herausforderungen. Beharrt man darauf, dass die Schoa sich wirklich von allem unterscheidet, was ansonsten stattgefunden hat oder je stattfinden wird, erübrigt sich der von Adorno identifizierte neue kategorische Imperativ, den Auschwitz der Menschheit beschert hat, da er nie zur Anwendung käme. Geht man andererseits davon aus, dass die Schoa eines von unzähligen Verbrechen sei, verliert sie ihren Wert als Symbol und Quelle der Legitimation. Je mehr Phänomene man in den gleichen Topf wie Auschwitz wirft, desto weniger gewinnt man dadurch, dass man sie (in welchem Maße auch immer) mit Auschwitz gleichsetzt. Gerade postkoloniale Theorieansätze leiden an diesem Widerspruch zwischen der Behauptung, alles sei ebenso schlimm wie Auschwitz, und der teils beabsichtigten, teils unbeabsichtigten Konsequenz, dass Auschwitz offenbar auch nicht schlimmer als alles andere war. Hegelianisch ausgedrückt, könnte man vielleicht sagen, die Schoa stelle uns vor ein komplexes Problem der Dialektik der Identität und Nichtidentität mit unserer eigenen Wirklichkeit. Schließlich würde auch niemand in Team A bestreiten, dass Individuen beim Treffen ihrer persönlichen Entscheidungen und in der Wahrnehmung ihrer persönlichen Verantwortung in erheblichem Maße von zahlreichen strukturellen Faktoren beeinflusst werden. Wie bei so vielen Sachverhalten, geht es auch hier nicht wirklich um entweder/oder-Fragen, sonder darum, in welchem Maße beides eine Rolle spielt. Sicher gibt es Angehörige beider Teams, die mitunter absurde Extrempositionen vor(ge)tragen (haben). Allerdings kommt dies in Team B weit häufiger vor. Selbst dann sind die Angehörigen von Team A wenigstens noch immer mit dem Antisemitismus befasst, während Angehörige von Team B immer wieder eine ungeheure Kunstfertigkeit darin bewiesen haben, ihn gänzlich zum Verschwinden zu bringen, auch wenn sie seinen Namen gelegentlich noch im Munde führen.

Israelbezogener Antisemitismus

Beim israelbezogenen Antisemitismus, um den es mir hier in erster Linie geht, liegen die Dinge dagegen wesentlich einfacher. In dieser Hinsicht hat die berühmt-berüchtigte IHRA Antisemitismusdefinition (womit immer die Definition und die mit ihr bereitgestellten Beispiele gemeint sind) Wunder gewirkt. Zum einen benennt sie spezifische Arten von Aussagen über Israel, die antisemitisch sind, und bietet damit eine Art Checkliste. Zweitens hat die explizite Klarstellung, dass „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch“ gilt, eine Klarstellung, die man ja auch für eine recht unappetitliche apologetische Schutzbehauptung halten könnte, sich als ganz großer Wurf erwiesen. Sie entlarvt den Antisemitismus, der all den endlosen Klagen, die Definition verunmögliche legitime Kritik an Israel, zwangsläufig innewohnt, denn diese Klage können ja nur jene geltend machen, die meinen, man solle an Israel tatsächlich andere Maßstäbe als an andere vergleichbare Fälle anlegen. Wer das nicht will, braucht sich um die Definition gar keine Sorgen zu machen.

Meine Kernthese lautet nun, dass infolge des scharfen Gegensatzes in Sachen israelbezogener Antisemitismus mindestens 80 Prozent aller relevanten Auseinandersetzungen völlig sinnlos und die reinste Zeitverschwendung sind, da die Angehörigen der beiden Teams nur immer wieder aufs Neue aneinander vorbeireden.

Meine Kernthese lautet nun, dass infolge des scharfen Gegensatzes in Sachen israelbezogener Antisemitismus mindestens 80 Prozent aller relevanten Auseinandersetzungen völlig sinnlos und die reinste Zeitverschwendung sind, da die Angehörigen der beiden Teams nur immer wieder aufs Neue aneinander vorbeireden.

Die Clintonkluft

Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, beziehe ich mich zur Veranschaulichung auf Bill Clintons umwerfende Behauptung, folgte man der von seinen Anklägern vorgelegten Definition, habe Monica Lewinsky zwar mit ihm, er aber nicht mit ihr Sex gehabt. Einmal davon abgesehen, dass sie eingängig und einprägsam ist, wähle ich diese Analogie, weil sie mehrere Probleme illustriert, mit denen wir es im Zusammenhang mit dem israelbezogenen Antisemitismus auch zu tun haben.

  • Erstens gibt es nicht allzu viele ähnlich gut dokumentierte und weithin bekannte Behauptungen, die ähnlich absurd sind.
  • Zweitens kann es einerseits gut sein, dass Clinton wirklich davon überzeugt war, seine sexuelle Interaktion mit Lewinsky habe keinen ‚richtigen‘ Sex dargestellt, da er ihre Vagina nicht mit seinem Penis penetriert hatte, doch wusste er zugleich ganz genau, dass er den Sinn der Fragen, die man ihm gestellt hatte, absichtlich entstellt hatte.
  • Drittens verdient die Mischung aus Empörung und Selbstgefälligkeit, mit der er an seiner so offensichtlich absurden Behauptung festhielt, Beachtung.

Alle drei Faktoren werden jedem, der schon einmal an einer kontroversen Diskussion zum Thema Antisemitismus beteiligt war, nur allzu bekannt vorkommen. Dummerweise leidet die Beweiskraft dieser Analogie daran, dass ich Clintons Verhalten für eine perfekte Illustration der absurden Vorgehensweise halte, mit der die Angehörigen von Team B den israelbezogenen Antisemitismus leugnen, diese selbst mein Verhalten aber auf gleiche Weise charakterisieren würden. Die Reichweite der formalen Analogie wird von der Frage, wer Recht hat, eindeutig begrenzt. Als Schwuler, der sich seit seiner Geburt keiner Vagina mehr genähert hat, mag ich vielleicht nicht beurteilen können, was ‚richtiger‘ heterosexueller Sex ist. Mit Gewissheit kann ich aber sagen, dass niemand mich je davon wird überzeugen können, Clintons Behauptung, er habe, während Lewinsky mit ihm Sex hatte, keinen Sex mit ihr gehabt, sei irgendwie ernst zu nehmen. So oder so zeigt die Analogie aber sehr gut, warum es wirklich keinen Sinn hat darauf zu hoffen, die beiden Teams könnten sich in Sachen israelbezogener Antisemitismus je einigen.

Spielen wir den Sachverhalt einmal gedanklich durch. Sagen wir, ich, der ich Team A angehöre, schlage Alarm, weil eine bestimmte Äußerung oder Verhaltensweise meines Erachtens ein Ausdruck israelbezogenen Antisemitismus ist. In aller Regel werden die Urheber der Äußerung oder des betreffenden Verhaltens keineswegs ableugnen, dass sie das, was ich ihnen vorwerfe, in der Tat gesagt oder getan haben, ja, oftmals werden sie es mit großen Stolz zugeben.

An dieser Stelle eine kleine Abschweifung: In dieser Hinsicht ist die jüngste Kontroverse um Mbembe durchaus ungewöhnlich, angefangen damit, dass Mbembe selbst mit Blick auf die Dinge, die er gesagt, geschrieben und getan hat, wiederholt schlicht gelogen hat. Seine Verteidiger sind meist wie jener Dieb vorgegangen, der zunächst behauptet, er habe den betreffenden Gegenstand gar nicht an sich genommen, sollte er ihn aber doch an sich genommen habe, habe er ihm ohnehin gehört, und wenn der Buchstabe des Gesetzes die Behauptung, er sei der rechtmäßige Besitzer des Gegenstands gewesen, nicht bestätigen sollte, so doch gewiss der Geist des Gesetzes, oder aber das Gesetz widerspricht eben dem Naturrecht, zumal der Richter doch die mildernden Umstände berücksichtigen müsse bzw., da es keine mildernden Umstände gebe, immerhin berücksichtigen, welche Not es seiner Familie bereiten würde, sollte er bestraft werden bzw., da er keine Familie hat, wieviel schwerer es für ihn dann sein würde, eine Familie zu gründen, was er zwar nicht beabsichtige, doch müsste der Richter doch eigentlich von dem Erfindungsreichtum, mit dem er, der Angeklagte, seine Verteidigung betrieben habe, inzwischen hinreichend beeindruckt sein, um ihn ganz unabhängig von den Tatsachen freizusprechen. Mbembe hat das nicht gesagt, geschrieben, getan, hieß es. Nun gut, er hat das doch gesagt, geschrieben, getan, es ist aber falsch interpretiert worden. Nun gut, es ist nicht falsch interpretiert worden, doch ist das seinem eigentlich Werk alles ganz äußerlich. Nun gut, tatsächlich spielen diese Dinge in seinem Werk eine ganz zentrale Rolle, aber das ist nicht so schlimm, denn der Mann kommt aus Afrika, und wer seine guten Absichten anzweifelt, kann nur ein Rassist sein. Überhaupt sind seine Kritiker alle Neonazis, wodurch ihre Behauptungen automatisch jeden Wert verlieren, ganz gleich, wie wahr sie sind. Und selbst wenn die Beschuldigungen bei Mbembe wirklich zutreffen, schafft man, wenn man das offen ausspricht, nicht ein Klima, in dem andere allzu leicht auch zu Unrecht beschuldigt werden könnten? Also mal ganz im Ernst, wenn man nicht einmal mehr behaupten kann, alle Schlechtigkeit der Welt rühre von der biblischen Religion der Juden her, und nichts und niemand verkörpere diese Schlechtigkeit der Welt so wie Israel, ohne gleich als Antisemit abgetan zu werden, dann ist die Redefreiheit doch längst tot. Und immer so weiter. Ende der Abschweifung.

Im Regelfall also werden diejenigen, die ich des israelbezogenen Antisemitismus beschuldigen würde, keineswegs bestreiten, dass sie für die betreffende Äußerung oder Handlung verantwortlich sind, sehr wohl aber, dass die betreffende Äußerung oder Handlung auch nur das geringste mit Antisemitismus zu tun habe. Würde ich nun behaupten, Angehörige von Team B würden, indem sie sich dieser Ansicht anschließen, Antisemitismusrelativierung, -minimierung oder -leugnung betreiben, würden diese das als eine unsinnige Äußerung weit von sich weisen und das, aus ihrer Sicht, völlig zu Recht. Denn aus ihrer Sicht war ja in dem betreffenden Fall gar kein Antisemitismus zu verzeichnen, wie also hätten sie den nicht vorhandenen Antisemitismus denn relativieren, minimieren oder leugnen können? Man könnte gerade so gut ein gemischte Gruppe aus Schwulen und Heteros in einen Raum sperren und ihnen sagen, sie würden erst wieder herausgelassen, wenn sie sich darauf geeinigt hätten, ob Männer oder Frauen sexuell attraktiver seien. Allerdings versagt auch diese Analogie, wenn man von der Form zum Inhalt wechselt. Mit den Jahren habe ich mich zwar mit dem Gedanken angefreundet, dass das Begehren heterosexueller Männer unter bestimmten Umständen vielleicht auch eine legitime Option darstellen kann, in der Frage des israelbezogenen Antisemitismus dagegen hat Team A unzweifelhaft Recht und Team B ebenso unzweifelhaft Unrecht.

Mit Hilfe der Clintonkluft lässt sich auch leicht erklären, warum die allermeisten (oftmals hitzigen) Auseinandersetzungen über den Antisemitismus in der Labour Party völlig sinnlos waren und sind. Von entscheidender Bedeutung ist es dabei zu begreifen, dass das Verhalten der zahlreichen Antisemiten innerhalb und im Umfeld der Labour Party zwei scheinbar widersprüchliche Dimensionen vereint. Zum einen ist es von dem Bedürfnis getragen, Tabus zu brechen, mutwillig und demonstrativ Dinge zu äußern und zu tun, von denen sie ganz genau wissen, dass andere sie für antisemitisch halten. Und dennoch lügen sie nicht bewusst, wenn sie im Brustton der Überzeugung darauf bestehen, ihr Verhalten habe mit Antisemitismus aber auch nicht das Allergeringste zu tun. Sie verhalten sich, anders ausgedrückt, genauso wie Bill Clinton: Sie wissen ganz genau, dass sie an der an ihnen geäußerten Kritik mutwillig vorbei plappern, und sind dennoch von der Wahrhaftigkeit ihrer Schutzbehauptungen zutiefst überzeugt.

Wie erklärt es sich, dass Team B keine Alternative zur Antisemitismusdefinition der IHRA vorgelegt hat?

Wären die gleichen Leute gezwungen, statt einfach nur ihren Antisemitismus zu leugnen, den Nachweis zu erbringen, dass ihr Verhalten nicht gegen die in der Antisemitismusdefinition der IHRA dargelegten Standards verstößt, stünden sie plötzlich gänzlich nackt da. Darum hat diese Definition ja auch Unmengen wütende Abwehr provoziert. Dabei leistet sie genau das, was sie leisten soll: Sie setzt in einer kontroversen Frage eindeutige Standards. Ich persönlich finde, dass sie ihren Zweck ziemlich gut erfüllt, aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache. Die meisten Menschen wären durchaus fähig festzustellen, dass dieses oder jenes Verhalten zwar rechtlich untersagt sei, ihres Erachtens aber legalisiert werden sollte, ohne darum gleich Herzrhythmusstörungen zu bekommen oder in Ohnmacht zu fallen, geschweige denn zu verlangen, das gesamte Strafgesetzbuch müsse auf der Stelle außer Kraft gesetzt werden. Analog gibt es auch keinen Grund, warum Angehörige von Team B nicht sollten leidenschaftslos einräumen können, dass bestimmte Äußerungen und Verhaltensweisen von der Antisemitismusdefinition der IHRA als antisemitisch bezeichnet werden, obwohl sie selbst finden, dass das ein Fehler ist. Das würde immerhin gewährleisten, dass alle Parteien tatsächlich wissen, was denn eigentlich zur Diskussion steht, auch und gerade, wenn ihre Interpretationen dann voneinander abweichen.

Es ist bezeichnend, das Angehörige von Team B sich zwar immer wieder große Mühe gegeben haben, die Antisemitismusdefinition des IHRA nach Kräften zu desavouieren, es bis heute aber keine breit unterstützte Initiative gegeben hat, eine alternative Definition zu entwickeln und offensiv zu propagieren. Das liegt daran, dass Team B (vorerst noch) nur gedeihen kann, solange es sich darauf beschränkt, Verwirrung zu stiften, und über Andeutungen und Unterstellungen möglichst nicht hinausgeht. Daher wäre eine ihren so wortreich und leidenschaftlich vorgetragenen Bedenken Rechnung tragende alternative Antisemitismusdefinition, einfach, weil auch sie wohl oder übel irgendwelche mehr oder weniger klar umrissenen Maßstäbe setzen müsste, aus ihrer Sicht gerade so schädlich wie jene der IHRA.

Würden die Angehörigen von Team B, anstatt immer bloß Team A und der Antisemitismusdefinition der IHRA vorzuwerfen, sie zögen die Trennungslinie zwischen legitimer Kritik an Israel und dem israelbezogenen Antisemitismus an der falschen Stelle, gezwungen, selbst zu bezeichnen wo diese Linie denn ihres Erachtens gezogen werden sollte, wäre das Ergebnis vermutlich für all beteiligten Parteien in hohem Maße erhellend. Was sich ohnehin schon bedrohlich deutlich abzeichnet, würde dann in aller Eindeutigkeit hervortreten, dass nämlich allzu viele Angehörige von Team B der Auffassung sind, es müsse gestattet sein, Israel das Recht abzusprechen, als jüdischer Staat in sicheren Grenzen, die es im Ernstfall tatsächlich verteidigen könnte, zu existieren, ja sogar, die vollständige Beseitigung des jüdischen Staats Israel zu fordern, ohne darum als Antisemit zu gelten. Solange es noch nicht als völlig opportun gilt, diese Dinge laut auszusprechen, stellt das unaufhörliche Infragestellen der Antisemitismusdefinition der IHRA die nächstbeste Option dar.

Allzu viele Angehörige von Team B sind der Auffassung, es müsse gestattet sein, Israel das Recht abzusprechen, als jüdischer Staat in sicheren Grenzen, die es im Ernstfall tatsächlich verteidigen könnte, zu existieren, ja sogar, die vollständige Beseitigung des jüdischen Staats Israel zu fordern, ohne darum als Antisemit zu gelten. Solange es noch nicht als völlig opportun gilt, diese Dinge laut auszusprechen, stellt das unaufhörliche Infragestellen der Antisemitismusdefinition der IHRA die nächstbeste Option dar.

Konsequenzen

Jetzt mal ganz ehrlich: Wann haben sie zuletzt im Zusammenhang mit einer entsprechenden Kontroverse etwas gehört oder gelesen, das dem, was sie auf Anhieb gewusst hätten, wenn der Urheber der entsprechenden Äußerungen ihnen nichts anderes mitgeteilt hätte, als dass er oder sie eher Team A als Team B (oder umgekehrt) zuneige, wirklich noch etwas Lohnenswertes hinzugefügt hat? Mir ist zwar bewusst, dass zahlreiche Experten und öffentliche Intellektuelle mit diesem Geschäft einiges an Geld erwirtschaften, aber stellen sie sich doch einfach mal vor, was wir an Zeit, Mühe und Ressourcen sparen und produktiver einsetzen könnten, wenn in Zukunft jeder, der versucht ist, sich zu einem spezifischen antisemitischen Vorfall zu äußern, es dabei bewenden ließe, klarzustellen, dass er auch dieses Mal wieder auf der Seite von Team A oder B ist, und nur dann noch etwas hinzufügte, wenn damit wirklich etwas ausgeführt wird, was durch die anfängliche Klarstellung nicht bereits abgedeckt wurde; wenn wir einander versprechen würden, uns nur noch dann detailliert zu äußern, wenn der Fall wirklich einmal nicht klar ist, beispielsweise, wenn ein Vorfall sich auch mit Hilfe der Antisemitismusdefinition der IHRA nicht eindeutig zuordnen lässt. Gehörte ich Team B an, bräuchte ich in den allermeisten Fällen bloß zu bestätigen, dass der betreffende Sachverhalt zwar der Antisemitismusdefinition der IHRA zufolge antisemitisch sei, ich aber bekanntlich ein Gegner der Definition sei. Umgekehrt werden die Vertreter von Team A die Angehörigen von Team B eh nie von ihrem Irrglauben abbringen können und tragen, indem sie es immer wieder versuchen, nur dazu bei, deren Irrglauben noch als diskussionswürdigen Standpunkt zu legitimieren. Denn auch hier muss zwischen der formalen und inhaltlichen Ebene unterschieden werden. Die Leute von Team B meinen zwar, es sei Team A, das dem Irrglauben verfallen sei, doch hat Team A eben Recht und Team B Unrecht.

Wenn es ihnen in Wirklichkeit nur darum geht, die einmal erarbeiteten, immer gleichen, schon anlässlich der letzten siebentausend antisemitischen Vorfälle wiederholten Bemerkungen zum Antisemitismus auch in Zukunft bei jeder geeigneten und ungeeigneten Gelegenheit nochmals zu wiederholen, würde ich vorschlagen, dass sie die betreffenden Bemerkungen einmal an einem leicht zugänglichen Ort veröffentlichen. Dann kann man Interessierte anlässlich jeder neuen Kontroverse einfach an diesen Ort schicken. Kommt der nächste antisemitische Skandal (woran ja kein Zweifel bestehen kann), können sie die Öffentlichkeit dann einfach darauf hinweisen, dass ihre Bemerkungen an diesem Ort weiterhin leicht zugänglich sind. So brauchen sie ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden, so zu tun, als seien ihre Bemerkungen nie aktueller und gültiger gewesen als gerade in diesem Fall. Diejenigen, die ihnen zustimmen würden, brauchen ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden nachzusehen, ob sie dieses Mal womöglich doch etwas Neues geäußert haben. Diejenigen, die ihnen nicht zustimmen würden, brauchen ihre Zeit nicht darauf zu verschwenden nachzusehen, ob sie ihren Standpunkt plötzlich verändert haben. Und niemand muss so tun, als glaubten wir, einander umstimmen zu können, indem wir immer wieder den gleichen Tanz aufführen. Dass die Angehörigen von Team B mit der bisher gängigen Praxis ganz gut leben können, leuchtet mir noch halbwegs ein. Die Angehörigen von Team A aber, sofern sie sich selbst ernst nehmen, müssten sich doch eigentlich viel zu viele Sorgen um die tatsächlich sehr ernsthafte vom Antisemitismus ausgehende Bedrohung machen, um diese sinnlose Zeitverschwendung fortzusetzen.

Ja aber, höre ich sie fragen, warum halte ich denn dann nicht endlich die Klappe? Auf diese Frage habe ich zur Abwechslung mal eine wirklich ganz einfache Antwort: Weil ich gerade dabei bin, mit diesem Blog jenen einfach zugänglichen Ort zu schaffen, an den ich sie anlässlich der nächsten siebentausend Antisemitismusskandale zu schicken gedenke, es sei denn, es gäbe wirklich einmal etwas Neues zu sagen.

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